Schnäppchen-Kunst Die vom verblichenen Andy Warhol als «Schwulenkrebs» bezeichnete Immunschwäche AIDS mag schrecklicher sein als andere Krankheiten. Doch ich kann mich langsam, aber bedrohlich des Eindrucks nicht erwehren, Krebs oder andere Schicksale, mit oder ohne Todesfolge, bekämen von einem Teil unserer Gesellschaft den Status zweiter Klasse zugewiesen. Oder sollte es, ohne mein Wissen, doch irgendwo Krebs- oder Multiple-Sklerose-Benefiz-Auktionen geben? Wie auch immer: Diese Teil-Gesellschaft ist unsere Art-Society der mittleren achtziger, frühen neunziger Jahre. Sie geriert sich wie ein Rotstift-Kommando, das die menschliche Sehhilfe Kunst zum (spieß-)bürgerlichen Affirmationsgestell zusammenstreicht. Sie ist ein (bedauerlicher?) Teil unserer Gesellschaft, deren «Anliegen» (ein Begriff, das ein gewisser Theodor Wiesengrund in den Orkus der Unwörter stieß) Nicolai Sarafov kürzlich liebevoll-resignativ «die Verwaltung des schlechten Gewissens» nannte. Ich kann das allerdings nur als ‹Vorab-Erbschleicherei› bezeichnen. Ich meine diejenigen, die, ob in Frankfurt oder Köln, ob, um Karlheinz Schmid zu paraphrasieren, in Stadtteilhausen oder Teilstadtbergen immer dann, modisch brav und uniform herausgeputzt wie für den Kirchgang, losstolzieren, wenn es gilt, bei AIDS-Benefiz-Veranstaltungen ein Schnäppchen zu machen. Mein langjähriger Ärger mutierte endgültig nach der AIDS-Auktion auf der letzten Art Frankfurt zur Wut. Da ich solche Veranstaltungen grundsätzlich meide, überkam sie mich erst spät am Abend. Da nämlich zitierte Vollrad Kutscher aus Angebot und Nachfrage. Ein paar Hausnummern: Hella Berent spendet eine Arbeit aus dem Jahr 1993 zum «Aufrufpreis» von 1.800 Mark; sie geht wegen mangelden Interesses zurück. Tomas Schmits 1980er Bratkartoffel, von Barbara Wien für 900 Mark zur Verfügung gestellt, wird von einem Jäger für 750 Mark «abgeschossen». Den Wert von 3.000 Mark stellte sich Marina Abramowicz vor als AIDS-Benefiz-Gabe für eine Arbeit aus dem Jahr 1993; bei dem Höchstgebot von 900 Mark geht sie zurück. Eine Blau-rote Überkreuzung von Rainer Ruthenbeck aus dem Bestand der Arbeitsgemeinschaft deutscher AIDS-Stiftungen sollte 1.800 Mark erbringen; Ergebnis: 1.000 Mark weniger. Einen mehr als günstigen Heerich wollte keiner, auch einen Förg nicht, und auch bei Nam June Paiks RCa von 1982 schnappten die Börsen der risikofreudigen Kunstfreundinnen und Kunstfreunde zu. Und das ist die Crux: Während New York, die Metropole dieser Erste-Klasse-Krankheit AIDS, zu Veranstaltungen mit präservativem oder reparativem Charakter unter 500 Dollar nicht mal Eintritt gewährt, richtet unsere mittelalterliche Achtziger-Jahre-Boutiquen-Gesellschaft, diejenige, die sich später zur Art-Society gewandelt hat, in den Beeten des Solidar-Gedankens einen exorbitanten Flurschaden an. Anstatt auf den Scheck für den Aufrufpreis nochmal dieselbe Summe zu schreiben, um den gesellschaftlich-verantwortlichen Wert solcher insgesamt für- und vorsorglichen ‹Auktionen› entsprechend zu bewerten, wird — im Grunde – «abkassiert». Hier erfährt der Begriff der siebziger Jahre, Ware Kunst, für den der ‹Eingeweihte› heute nicht einmal mehr ein müdes Stirnrunzeln übrig hat, eine unappetitliche Wiedergeburt: Kunst wird wie im Frühjahrs-, Sommer- oder Winterschlußverkauf verramscht – in Frankfurt, Basel, Köln oder anderswo. Krebs hin, AIDS her — diese Party-Nachricht würde ich gerne demnächst von einem der vielen Noch-Besserverdienenden hören: Vossmerbäumer auf Benefiz-Auktion ergattert. Sehr günstig. 1.200 Mark. Hab' ich gleich noch 1.000 draufgelegt. Na ja, gibt ja 'ne Spendenquittung dafür. artis 6.1994 + Laubacher Feuilleton 10.1994, S. 1
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