Wer immer hofft ... stirbt singend. Hier ist die Rede von Antoine Billot. An der Katastrophe von Arles nahm er teil. Hunderte Tote über Nacht, weil ein Damm brach. Soldaten holten ihn in Booten ab, als er bereits bewußtlos war vor Hunger und Kälte, mit beiden Armen an einen Baum geklammert. 1939 lag er unter der Lokomotive zusammen mit vier anderen Streckenarbeitern, da irgendetwas mit dem Warnsystem nicht geklappt hatte. Das Zugpersonal, das den Eilzug erst einige Meter hinter der Unfallstelle zum Halten bringen konnte, unübersichtliche Kurve, wurde im nächsten Ort ausgewechselt. Die Schäden an der Lokomotive waren gering. Unser Mann wurde ärztlich nicht sogleich behandelt, da man ihn zu den übrigen Toten gelegt hatte, später rappelte er sich noch einmal zusammen. Eine Betondecke stürzte ein, sieben Frauen, die in dem Raum unter der Betondecke für eine Firma Kartoffeln schälten, wurden getötet. Er war der einzige Mann in diesem Raum. Stand im Augenblick des Betriebsunfalles in der Tür und wurde lediglich schwer verletzt, so daß die Ärzte an seinem Aufkommen zweifelten. Die Sache ging durch die Zeitungen. Im Krieg wurde er von dem Ort, an dem er seine Verwundung empfing, zurückgeflogen ins Innere des Landes. Da ein Motor der Sanitätsmaschine aussetzte und das Flugzeug an Höhe verlor, kam von der Bodenstelle die Weisung, die Schwerverletzten abzuwerfen. Der Mann gehörte zu den Schwerverletzten. Er wurde abgeworfen. Niemand hätte mehr mit ihm gerechnet, da Mangel an Fallschirmen bestand. Aber er fiel noch ganz glücklich und ließ sich in dem Bauernhof, in dessen Gebiet er fiel, gesund pflegen. Es war sein Glück, denn er entging dadurch der Gefangenschaft und der Zwangsarbeit in Deutschland. Nach dem Sieg beging er die Torheit, sich auf den Nachhauseweg nach Südfrankreich zu machen. Auf diesem Weg geriet er in Nimes unter die verhafteten Milizangehörigen, die man ins Stadion trieb und mit Maschinengewehren beschoß. Hierein wurde er entweder durch ein Versehen verwickelt oder weil er tatsächlich etwas mit der Miliz zu tun hatte. Er lag angeschossen, verdeckt von einigen Toten, die über ihn gefallen waren, und wurde, wie er später erzählte: wie ein toter Stier, als tot abgeschleppt. Es gelang ihm später, sich zu entfernen. Vom Wehrdienst in Algier wurde er befreit. Er nahm auch keine Arbeit mehr an, wenn sie in Betrieben stattfand, in denen die Unfallquote über 1,2 % im Jahr lag. Es passierte aber, daß er sich im Stadion eines südfranzösischen Städtchens in der goldenen Abendsonne ein Fußballspiel ansah, die Ränge bis auf den letzten Platz besetzt, plötzlich setzt ein wolkenbruchartiger Regen ein, der ganze Himmel ein einziger Wasserstrahl auf die Schaulustigen, die aus Angst, naß zu werden, zu Tausenden zu den Ausgängen der Arena drängen. Dabei blieben zwanzig Menschen, teils getötet, teils schwer verletzt, liegen. Der inzwischen vierzigjährige Billot — schon in der Nähe des Ausgangs — gehörte zu den erheblich Blessierten, entging aber dem Tode. Die Verletzung, die er auszukurieren hatte und zu der durch unsachgemäße Behandlung in der Kreiskrankenanstalt ein Leberleiden und eine leichte Blutvergiftung hinzukamen, bewahrte ihn vor der Teilnahme am Suez-Abenteuer, von dem man damals nicht wissen konnte, ob es nicht gefährlich enden würde. Der Mann war dankbar. Alexander Kluge Laubacher Feuilleton 20.1996, S. 16 Aus: Lebensläufe, Bibliothek Suhrkamp 911, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1986
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