Telefax aus Paris

Photographie: mafate69 CC


Gestern brachte mir ein linientreuer 68er rote Rosen mit. «Die sind doch jetzt in Mode», beschwichtigte der stark ergraute Architekturkritiker, der nicht nur im Freundeskreis für seinen Zynismus bekannt ist, mein freudiges Erstaunen. Und dann gestand er, daß auch er am Abend des 10. Januar auf die Place de la Bastille gegangen war und sich selbst dabei ertappt hätte, unwillkürlich mit roter Rose zu erscheinen und sie vor einem der Riesenphotos, die an den vier Seiten des Platzes zum Gedenken an Mitterrand errichtet waren, niederzulegen. Wir waren einander an dem Abend nicht begegnet. Die Menschen standen so dichtgedrängt, daß man sich nur in der kaum merklichen Bewegung der Menge über den Platz tragen lassen konnte. Der Freund gestand noch mehr — auch er sei in dieser stillen, andächtigen Menge ergriffen gewesen, schließlich sei Mitterrand ja «doch irgendwie so etwas wie eine Vaterfigur gewesen».

Das war für mich mit dem ‹Doppelbewußtsein› einer Ausländerin das Beeindruckendste am Tod von Mitterrand: Bei aller Widersprüchlichkeit seiner eigenen Geschichte hat dieser Staatsmann es geschafft, in den 14 Jahren seiner Präsidentenzeit so etwas wie ein familiäres Band zu den Staatsbürgern zu knüpfen. Das Statement von der Straße, das in vielen Variationen durch alle Medien ging, «Da ist einer gegangen, der zu uns gehört hat, ja fast wie ein Familienmitglied», war einmal keine virtuell hochgespielte Blase; so haben das die besten Freunde auch empfunden.

Diese Wärme werden Chirac und Juppé nie erleben, auch wenn angeblich ihre Beliebtheit in den letzten zwei Wochen (Mitte Januar; Anm. d. Red.) um einige Prozent angestiegen ist. Charisma haben und Politik machen, sind zwei verschiedene Dinge.

Als neulich die Streikwelle auf ihrem Höhepunkt war und Millionen Demonstrierende durch die Straßen zogen, hielt Juppé seine lang ausstehende Rede an die Staatsbürger. Und da sagte der Premierminister doch den Satz: «La situation est grave, non pas pour moi, mais pour le pays.» (Die Situation ist dramatisch, nicht für mich, aber für das Land.) Stimmt. Selbst wenn er seinen Posten verliert, wird er kaum weniger verdienen.

Am selben Abend liefen in den Fernsehnachrichten an erster Stelle nicht etwa die Bilder von den Massendemonstrationen, sondern in ausführlichster Breite Berichte über die aus Bosnien geretteten beiden französischen Piloten, und Chirac sprach Grußworte für die beiden Familien, die so tapfer und geduldig die lange Wartezeit durchgestanden hatten. Dann kamen endlich ein paar zusammengeschnittene Reportagen, insgesamt drei Minuten, die lustige Clowns, fröhliche Gesangsgruppen und tanzende Maskeraden zeigten: die Menschenmassen reduziert auf Zahlen wie 50.000. Es waren aber eineinhalb Millionen, und sie marschierten durch die großen Achsen von Paris zur Place de la Nation von morgens um halb zehn bis abends um halb sechs, immer mindestens zehn nebeneinander in ununterbrochenem, dichtem Strom. Zwischendurch gab es tatsächlich mal ein paar Gesangsgruppen mit selbstgedichteten politischen Liedern, die allerdings immer den Kopf von Juppé oder von Chirac oder beider Köpfe forderten; auch einen Clown habe ich gesehen. Aber sonst? Arbeiter in dicken blauen Pullovern, die sich Ascheimer vor den Leib gebunden hatten und darauf mit Holzlatten den düsteren Rhythmus schlugen: «Tous ensemble, tous ensemble, tous ensemble ...» (Alle gemeinsam ...) Alle 200 Meter brannten sie nebeneinander ab, groß wie ein halber Arm. Der Qualm war so stark und undurchsichtig, daß für ein paar Minuten ein ganzes Straßenstück in grauen, beißenden Wolken völlig verschwand: nur noch die Brennköpfe der Kerzen selbst leuchteten. Am Straßenrand stand die zweite Masse von Zuschauern. Die Geschäftsinhaber hatten aus Vorsicht die Rolläden heruntergelassen. Einige, die am Straßenrand standen, weinten. Zum Glück, da fielen die eigenen Tränen nicht so auf.

Wer in den Medien die Begriffe ‹fröhliche Katastrophe› oder ‹Demonstrationskarneval› verbreitet hat, muß entweder von der Regierung gekauft worden sein oder hat — wie heute üblich — den Respekt vor Bildern verloren. Solche Naivität macht Angst.

Seit dem 21. Dezember, nach den sogenannten Dialogen, ist Juppé auf dem Fernsehbildschirm nicht mehr aufgetaucht. So, als wolle man ihn schonen. Denn die Fortsetzung der Streiks ist angekündigt. Und das Gerücht geht um, sie würden heftiger als vorher. — Der [angebliche; Anm. d. Red.] Ausspruch von Marie-Antoinette, wenn das Volk kein Brot habe, solle es doch Kuchen essen, ist mit dieser Regierung wieder in aller Munde.

Doris von Drathen


Laubacher Feuilleton 17.1996, S. 16
 
Mi, 30.12.2009 |  link | (1850) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftliches






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