Die Engländer

Im englischen Privathause lernte ich erst verstehen, daß gewisse Sonderbarkeiten des Engländers, die wir als Flegeleien bezeichnen, dies keineswegs sind. Der Engländer denkt eben in vielen Fragen anders als wir; anders, nicht besser, aber auch nicht schlechter. So geht er von dem durchaus vernünftigen Standpunkt aus: mache dir das Leben, wo du immer weilst, so bequem wie möglich. Sitzt du im Rauchzimmer und hast das Bedürfnis, deine Beine auf den Stuhl vis-à-vis, oder gar auf den Tisch, zu legen, so kann er nicht einsehen, warum du dir deinen Wunsch nicht erfüllen solltest. Kommt dann ein Zweiter ins Rauchzimmer, in dem zurzeit nur zwei Sessel sind, so denkt der Erste gar nicht daran, seine Beine von dem Sessel herunterzunehmen, sondern hält es für selbstverständlich, daß sich der andere einen dritten Stuhl aus dem Nebenzimmer holt. Er würde es genau so machen, wenn der andere die beiden Stühle im Gebrauch hätte. Er sagt sich eben, wer eher da ist, hat das Recht, die vorhandenen Bequemlichkeiten, soweit es ihm irgendwie beliebt, auszunutzen. Eine verständliche Logik für ein Volk, das in den letzten zweihundert Jahren fast auf der ganzen Erde im richtigen Moment immer eher da war, als die anderen, und darum das Recht des Ersten sehr hoch einschätzt.

Wir regen uns darüber auf, wenn ein Engländer im Coupé eine ganze Sitzreihe einnimmt, um im Liegen sein Pfeifchen zu rauchen. Wir verlangen kategorisch von ihm, daß er aufsteht. Er würde in seinem Lande niemand stören, der es sich bequem gemacht hat, solange er überhaupt noch irgendein Plätzchen für sich findet. Er hält es im Gegenteil für rücksichtslos, wenn man ihn aus seiner bequemen Lage verdrängt, weil man sich gerade auf die Sitze in seinem Coupé versteift.

Und genau so ist er in seinem Hause. Benutzt er seinen Schreibtisch, denkt er gar nicht daran, ihn für dich freizugeben, weil er annimmt, du wolltest zu jener Zeit auch schreiben. Sitzt du eher dort, stört er dich nicht durch unnütze Fragen: wie lange du noch zu schreiben hast? Kommt die Mittagsplatte zuerst zu ihm, nimmt er sich die Stücke heraus, die ihm am meisten zusagen; bei der nächsten Platte, die eher zu dir kommt, kannst du dich dafür revanchieren. Er fragt dich nicht: «Wollen Sie morgen früh um acht oder neun Uhr baden?» Ist das Bad frei, kannst du ja baden, ohne ihn zu fragen; ist es besetzt, mußt du eben warten; wie er ja unter gleichen Umständen auch warten muß. Geht ihr aus, gibt es keine Förmlichkeiten, wer zuerst durch eine Tür geht, wenn du keine Dame bist; denn die geht natürlich immer voran. Seid ihr aber Männer unter euch, so geht der zuerst hinein, der der Tür am nächsten steht.

Auf dieser Grundlage ist das ganze englische Leben und so auch das Familienleben aufgebaut, und weil jeder dem andern seine Bequemlichkeit gönnt, fühlen sich alle behaglich. Ein weiterer Vorzug des Engländers besteht darin, daß er den Klatsch haßt. Er ist zu großzügig, um über Abwesende, die sich nicht wehren können, boshafte Bemerkungen zu machen. Natürlich gibt es Ausnahmen; bei uns gibt es aber in dieser Beziehung fast nur Ausnahmen und deshalb überall Familienzwistigkeiten, die jedem feiner organisierten Menschen den Aufenthalt in befreundetem Hause ungemütlich machen. Der Engländer fühlt im allgemeinen viel naiver, als wir, frischer, ursprünglicher und natürlicher; deshalb zerbricht er sich den Kopf nicht darüber, daß andere Menschen anders sind, sondern läßt sie mit Vergnügen anders sein, weil er weiß, er ist ja auch anders als die andern. Aus diesem Gefühl heraus erträgt er alle kleinen Schwächen der anderen mit bewundernswerter Geduld, solange man sich nur im übrigen wie ein Gentleman oder eine Lady benimmt.

Durch diese Lebensauffassung fühlt sich jeder, der mit dem Engländer in nähere Berührung kommt, überaus sympathisch berührt, und zieht deshalb das englische home-life jedem anderen vor. Nur ist das Hineindringen in englische Familien sehr schwer, weil der Engländer natürlich durch längeren Umgang mit dem Fremdling erst zu erfahren sucht, ob dieser ein Gewinn oder eine Störung für sein Haus sein wird. Hat er sich aber für das erstere entschieden und öffnet sein Haus, dann fühlt man sich dort so wohl, als sei man das beliebteste Familienmitglied.

Da ich [...] das Rezept kannte, wie man Engländer und Engländerinnen angelt, setzte ich mich in jedem neuen Boardinghause [...] ans Klavier und hatte überall den gleichen Erfolg. [...] Man darf aber nicht etwa Beethoven oder Bach spielen; das verständen sie nicht, auch wenn Beethoven selber am Flügel säße, sondern immer nur leichte, süße, etwas melancholische Sachen; dann beißen sie an.

Alexander O. Weber
* um 1880

Laubacher Feuilleton 13.1995, S. 16

Indiskretionen, Erlebtes und Erlauchtes, Heinrich F. S. Bachmair Verlag, Berlin-München 1917, S. 18 - 20

 
Fr, 27.11.2009 |  link | (1115) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftliches






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