Ist Gott noch Franzose?

Ulrich Wickerts Buch Und Gott schuf Paris

Dieses Buch ist von einem Nicht-Franzosen für Nicht-Franzosen geschrieben. Es erwähnt Fakten und Phänomene, die uns Franzosen als selbstverständlich bzw. als nicht weiter erwähnenswert erscheinen. Und der Ärgernisse gibt es einige — gleich auf der ersten Seite: Die Übersetzung des französischen Satzes Dieu est il envie français? («Ist Gott noch Franzose?») klingt für mich so, als würden wir Gott zu unserem National-Eigentum zählen. Ich hätte übersetzt: Ist Gott noch immer französisch?, das heißt: Gehört Gott noch zu unserer Kultur? Die Garde Républiquaine zum Beispiel ist eine Quantité négligable gegenüber der police judicinaire (P. J.), die Commissaire Maigret berühmt gemacht hat, dagegengestellt die Police des polices, (eine Instanz, die es zur Aufgabe hat, die Polizei zu überwachen) — mal außer acht gelassen die Tatsache, daß es so viele Polizei-Arten gibt, daß man sie aus dem Kopf heraus nicht aufzählen kann. Die Compagné républiquaine de sécurité genießt mehr Prestige in ganz Frankreich als die Garde Républiquaine.

Es ist ein Buch, das ein Deutscher geschrieben hat: in aller Gründlichkeit, hervorragend recherchiert. Und Herr Wickert ist raffiniert: Er läßt französische Zeitungen und Zeitschriften oder auch Ionescu für sich sprechen. Aber was einem Franzosen nicht entgeht, weil er die entsprechenden gedanklichen Verbindungen herstellen kann, ist dem deutschen Durchschnittsleser nicht bekannt. So bekommt er ein anderes Bild. Zum Beispiel: Wer nicht weiß, welches Ansehen die Levantin in Frankreich hatten (und haben), als die Balladur-Familie nach Frankreich einwanderte, wird in dem von Wickert zitierten Portrait des Premierministers in der französischen Zeitung Canard Enchaîne eine hämische Satire sehen; für Franzosen ist es arglos.

Genaugenommen ist es kein Buch, das uns vom Anfang bis zum Ende führt, sondern eine Reportage aus vielen Elementen und Gesichtspunkten, das, wie eine Collage, zu einem Bild zusammengefügt wird — aber kein Buch über Paris, wie der Titel es erwarten läßt. Um Paris geht es in diesem Buch am wenigsten. Und was an Paris göttlich sein soll, bleibt letztlich unklar.

Am Ende des Buches weiß der deutsche Leser vieles über Frankreichs Institutionen und Gesellschaft, vom Norden bis nach Monaco (das nicht französisch ist), aber er hat kein besseres Verständnis vom Nachbarn gewonnen. Bis zum 15. von 25 Kapiteln bleibt man in Paris, und der Leser nimmt die Portraits von Balladur, Gisèle Freund, César, Ionescu geduldig in Kauf, in der Erwartung, es diene der Erörterung, daß Paris tatsächlich aus göttlicher Hand stamme.

Ein ganzes Kapitel wird den Fassaden gewidmet, hinter denen sich das verbirgt, was hinter allen Fassaden der Welt steckt: Menschen mit ihren guten Seiten, ihren Schwächen und Grausamkeiten, ihren Widersprüchen und Geltungsbedürfnissen. Die Fassaden der Hauptstadt, das wird in diesem Buch nicht gesagt, sind zugleich auch Kulisse für das Leben auf der Straße: dem Theater aller Zeiten, dem Paradies von Prévert und Carné in dem berühmten Film Les Enfants du Paradis (deutsch: Kinder des Olymp), ein Paradies mit Taschendieben, Lügnern, Intrigen, Mord und Lächerlichkeiten. Hier muß ich an Arletty denken, die Hauptdarstellerin in diesem Film, die von Azzedine Alaï zur Mutter der Pariserin erklärt wird. Hinter dem Mythos der Pariserin steckt eine moderne Frau in einem Frankreich, dessen Schul- und Verwaltungsstruktur die Gleichberechtigung beider Geschlechter und ein höheres Selbstbewußtsein der Frau begünstigt. Auch hier zeigt sich der Autor als ein sehr guter Journalist, der zu recherchieren weiß. — Ein fast poetisches Moment wird uns gegönnt mit Christo und der Verhüllung des Pont Neuf. Und man wähnt sich kurz im Garten Eden, als vom Jardin du Luxembourg die Rede ist. Aber es ist ein verlorenes Paradies ...

Als dann im 15. Kapitel das Viertel La Gouette d'Or mit der massiven Konzentration von Emigranten, hauptsächlich aus Afrika, beschrieben wird, erhofft man sich, mehr über die Randbezirke und das Leben der Ausländer zu erfahren. Aber, mal abgesehen davon, daß die Asiaten im Süden mit dem großen chinesischen Markt nicht erwähnt werden – es geht bei Wickert um Gesellschaftsphänomene, die man heute überall in den Großstädten vorfindet. Das Thema Großfamilie hingegen wird viel positiver erörtert, als die Einleitung erwarten läßt – und das verdanken wir den von Ulrich Wickert verwendeten Analysen französischer Soziologen. Aber beim Kapitel Bizutage; Sex und Gewalt formen die Eliten dreht sich der Magen eines jeden Franzosen um, wenn von einem seiner Aushängeschilder, les Grande Ecoles, nur die Kehrseite der Medaille gezeigt wird. Dadurch, daß der Autor nicht versucht, wie er schreibt, hinter das Tabu zu kommen, wirkt es eher polemisch und verstärkt den mythischen Charakter dieses Olymps.

Überhaupt läßt das letzte Drittel des Buches an der Sympathie Wickerts für Frankreich zweifeln! Zehn Jahre soll er dort gelebt haben? Seine zweite Heimat soll er dort gefunden haben? Er tut geradeso, als hätte er nie an einer französischen Hochzeit teilgenommen, als habe er nie den Alltag irgendeiner Familie geteilt, als habe er Paris und Frankreich immer nur in der Rolle des Auslandskorrespondenten erlebt, dessen Neutralität (gibt es denn eine solche?) und Objektivität darin besteht, die richtigen Leute, den richtigen Zeitungsartikel, die richtigen Schriften und Erhebungsergebnisse zu zitieren.

Meiner Ansicht nach trägt er nicht gerade zur Völkerverständigung bei, sondern nutzt die Tatsache, daß man ihn als Fernsehjournalist kennt, um ein Buch an den Mann zu bringen, das, von einem unbekannten Autor geschrieben, nur eine mürrische Reaktion hervorrufen würde – wäre es nicht so gut recherchiert. Zweifelsohne ist es eine Fundgrube wertvoller Informationen über Frankreich, hinterläßt jedoch einen bitteren Nachgeschmack von Fremdheit. So heißt es im vorletzten Kapitel: Hilfe, Europa wird deutsch! Es ist jedoch lediglich ein Spiegel der französischen Presse nach der (Wieder-)Vereinigung Deutschlands. Heute, mit mehr Abstand, ist die französische Volksmeinung viel nuancierter.

Übrigens: Der deutsche Spruch Wie Gott in Frankreich ist bei uns unbekannt. Da heißt es schon lange: Gott ist tot. Wenn man bedenkt, daß die heutige Gottheit sich Geld nennt, könnte man sich fragen, ob die Franzosen – und andere – nicht denken: Wie Gott in Deutschland?!

Martine Dallennes

Laubacher Feuilleton 14.1995, S. 12
 
Di, 07.04.2009 |  link | (2154) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Schrift + Sprache






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