Projektenmacherei oder: Louise Villedieu Kunst ist eine seltsame Sache. Sie steht außerhalb aller gängigen gesellschaftlichen Systeme und Subsysteme, sie ist gleichzeitig aber auch als Wirtschaftsfaktor integriert, es existiert ein Markt für sie. Sie ist Gegenstand akademischer Forschung, der sie sich gleichzeitig widersetzt. (Meist merkt dies die akademische Forschung aber nicht, da sie zu sehr auf sich selbst fixiert ist.) Die Analyse des Kunstmarktes ist ein eher exotisches Thema dieser akademischen Forschung. Alles was mit Geld zu tun hat, ist den sogenannten Geisteswissenschaften suspekt. Der universitäre Betrieb in Deutschland, wie er sich heute darbietet, ist — analog zur allgemeinen Entwicklung — nach einer Phase der Ideologiekritik in den sienziger Jahren und zu Beginn der achtziger Jahre wieder ins frühe 19. oder gar ins späte 18. Jahrhundert regrediert. Wilhelm von Humboldts Wissenschafts- und Bildungsideal ist in zweifacher Hinsicht wieder zu einer Meßlatte geworden: Der Politik ist die Bildung — trotz anderslautender Statements — keinen Pfifferling mehr wert, da mit ökonomischen Maßstäben nicht exakt meßbar. Von Politikern wird heute unter Bildung der Zugang zum Internet verstanden. Das zeugt von Engstirnigkeit, Kurzsichtigkeit und Dummheit. Die Geisteswissenschaften beziehungsweise deren Fakultäten wursteln entweder unbeleckt von jeglicher Entwicklung auf anderen Sektoren vor sich hin, wollen (oder können) über den eigenen Tellerrand nicht hinausschauen, oder sie machen Männchen, plappern jeden modischen Krampf des ‹Zeitgeistes› nach, oder, die dritte Möglichkeit, sie ergehen sich in unergiebigen Rechtfertigungselogen. Man hat das schon oft gehört, die Zeit der großen Erzählungen sei vorbei, man müsse nette kleine Geschichten erzählen etc. etc. Dann ist da noch, um beim Gegenstand zu bleiben, die Kunstkritik — auch eine seltsame Sache. In seiner 1920 erschienenen Dissertation über den Begriff der Kunstkritik in deutschen Romantik meinte Walter Benjamin: «Eine Begriffsbestimmung der Kunstkritik wird man sich ohne erkenntnistheoretische Voraussetzungen ebensowenig wie ohne ästhetische denken können; nicht nur weil die letzten die ersten implizieren, sondern vor allem weil die Kritik ein erkennendes Moment enthält, mag man sie übrigens für reine oder mit Wertungen verbundene Erkenntnis halten.» Die Erkenntnis ist, scheint's, aus der Mode gekommen. Religiös anmutende Vernebelungen sind wesentlich beliebter. Sie entheben einen des Denkens. Sie sind reine Glaubenssache. Glauben ist schließlich bequemer als denken. Nun ist auch das Geld eine metaphysische Sache und steht in einer äußerst eigenartigen Beziehung zu beispielsweise Kunstgegenständen. Letztere sind ideell und materiell zugleich. Sie sind nicht nach den üblichen Maßstäben von, um mit Marx zu sprechen, «x Ware A = y Geldware» zu messen. Sie sind auch nicht — oder nur sehr wenig — von rein ökonomisch bedingten Wechselkursschwankungen abhängig. Die Wechselkurse für Kunstgegenstände richten sich beispielsweise nach Moden, nach persönlicher Gier beziehungsweise, positiv idealistisch ausgedrückt, dem Verlangen nach Schönheit oder, und da sind sie den gängigen Waren am ähnlichsten, sie sind durch kartellartige Zusammenschlüsse mehrerer Händler manipuliert. «Der Preis oder die Geldform der Waren ist», so Karl Marx im ersten Band des Kapitals, «wie ihre Wertform überhaupt, eine von ihrer handgreiflich reellen Körperform unterschiedne, also nur ideelle oder vorgestellte Form. Der Wert von Eisen, Leinwand, Weizen usw. existiert, obgleich unsichtbar, in diesen Dingen selbst; er wird vorgestellt durch ihre Gleichheit mit Gold, eine Beziehung zum Gold, die sozusagen nur in ihren Köpfen spukt. Der Warenhüter muß daher seine Zunge in ihren Kopf stecken oder ihnen Papierzettel umhängen, um ihre Preise der Außenwelt mitzuteilen.» In einer Fußnote teilt Marx mit, daß bestimmte Wilde oder Halbwilde das Angebotene zweimal ableckten, um ihre Zufriedenheit mit dem Geschäftsabschluß kundzutun. Heute ist es die Regel, den Waren — und damit auch den Kunstgegenständen — Zettel umzuhängen anstatt sie abzulecken. Man stelle sich vor: Der Hammer saust nieder, das Objekt ist verkauft, der Käufer rennt hin und leckt es ab. Eine Abart solcher ‹primitiver› Verhaltensweisen findet sich in religiösen (und auch, aber das kann uns hier, trotz engen Bezugs, leider nicht weiter interessieren, sexuellen) Gebräuchen. Ein Fuß der Statue des hl. Petrus im Petersdom zu Rom ist bereits durch häufiges Ablecken bzw. Küssen zu einem amorphen Klumpen deformiert. Der Kunstkäufer, so will es die Mär, sucht die ideellen Werte. Außer er ist zugegebenermaßen ein Spekulant. Ideelle Werte existieren auch in der Form des kulturellen Feigenblattes, das sich der Spekulant vorhängt. Folgt man Marx weiter — und es gibt auch heutzutage keinen Grund, einem der größten Polemiker deutscher Sprache und glänzenden Analytiker nicht zu folgen —, so schließt die Preisform die Veräußerlichkeit der Waren gegen Geld und deren Notwendigkeit mit ein. Das Gold hingegen als Äquivalent funktioniere nur als ideelles Wertmaß, da es sich bereits im Austauschprozeß als Geldware umtreibe. «Im ideellen Maß der Werte lauert daher das harte Geld.» So wären Andy Warhols Dollar Bills und die späteren sozusagen abstrahierten Dollar Signs nichts anderes als die bildliche Umsetzung einer These von Marx, bezogen auf den Kunstmarkt, nein, besser noch, praktisch angewendet auf den Kunstmarkt. Es ist, genau betrachtet, schon sehr seltsam, wenn ein Mensch zigtausende von Dollar für das Bild einer Dollarnote bezahlt. Bei Warhol lauert das harte Geld nicht nur, es springt ins Auge. Was aber nützt das bei einem Blinden? Einen anderen Weg wählte Edward Kienholz. Er erfand eine eigene Währung in Kunst. Ein mit zarten Aquarellstreifen versehenes Blatt Papier wurde bestempelt mit der Aufschrift «For $ …» und jeweils ebenfalls gestempelter eingesetzter Summe. Der Käufer zahlte den jeweiligen Betrag für das ‹Aquarell›. Kienholz zu seinem Vorgehen: «Ich behielt das 1-Dollar-Aquarell, um es zusammen mit dem 10.000-Dollar-Aquarell zu verschenken, weil ich mir überlegt hatte, daß jemand unter Umständen die beiden Endstücke der Serie würde haben wollen. Dadurch ergibt sich eine interessante Möglichkeit. Wenn zwei Werke ein und desselben Künstlers das gleiche Format haben und aus der gleichen Zeit datieren, gilt seit jeher, daß sich ihr Wert in etwa entsprechen sollte. Für den Käufer des 10.000-Dollar-Aquarells ergibt sich somit die Möglichkeit, sein Geld umgehend zu verdoppeln, und wenn es zu einem solchen Verkauf käme, müßte theoretisch der Wert aller Geld-Aquarelle ungeachtet des auf sie aufgedruckten Nennwertes auf den gleichen Preis steigen.» Projektenmacherei als Kunst oder Kunst als Projektenmacherei. Werner Sombart hat diesen schönen Begriff in seinem Buch über die Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen mit dem Titel Der Bourgeois erläutert. Das vierte Kapitel behandelt «allerhand Mittel zur Geldbeschaffung», der dritte Unterpunkt stellt den «Erwerb durch Geistesmittel (Erfindungsgabe)» vor. Daniel Defoe, der hauptsächlich durch sein vermeintliches Jugendbuch Robinson Crusoe etwas einseitig bekannt ist, hat 1697 An Essay on Projects publiziert. Sombart benutzte Defoe als Quelle: «Ein bloßer Projektenmacher ist [...] etwas Verächtliches. Durch seine verzweifelte Vermögenslage so in die Enge getrieben, daß er nur durch ein Wunder befreit werden kann oder umkommen muß, zermartert er sein Gehirn nach solch einem Wunder vergebens und findet kein anderes Rettungsmittel als, indem er, einem Puppenspieler gleich, die Puppen hochtrabende Worte reden läßt, dieses oder jenes als etwas noch nicht Dagewesenes hinstellt und als neue Erfindung ausposaunt, sich ein Patent verschafft, es in Aktien teilt und diese verkauft. An Mitteln und Wegen, die neue Idee zu ungeheurer Größe anzuschwellen, fehlt es ihm nicht; Tausende und Hunderttausende sind das geringste, wovon er spricht; manchmal sind es gar Millionen, bis schließlich der Ehrgeiz eines ehrlichen Dummkopfes sich dazu verlocken läßt, sein Geld dafür hinzugeben. Und dann — nascitur ridiculus mus!» Man denkt dabei zwar unwillkürlich an den Finanzminister, sollte aber daneben die Parallelen sowohl zur Kunst als solcher als auch zum Kunstmarkt nicht übersehen. In den Instituten, den akademischen wie den bewahrenden, sitzen die geistigen Projektenmacher, die auch gern eine Erbse zum Kürbis hochstilisieren und diesen dann solange traktieren, bis unter großem Gestank faulige heiße Luft aus ihm entweicht. Sie nennen es Forschung. Defoe schrieb als Moralist, heute gelten Projektenmacher als Künstler, man denke an junge Broker, die mit einem Handstreich eine Bank zugrunde richten, oder an Bauspekulanten, die den Projektenmachern, die in der Bank sitzen, mit deren eigenen Mitteln und Waffen ein Schnippchen schlagen. Von der öffentlichen Moral her sind sie zu verurteilen, aber im Grunde seines Herzens bewundert sie der Bürger. Sie sind Künstler. Ausgesprochen hat dies, um einen weiteren Zeugen anzuführen, Sören Kierkegaard. In Entweder — Oder aus dem Jahr 1843 schrieb er die heute mehr denn je gültigen Sätze: «Man will die Staatsfinanzen durch Einsparungen verbessern. Kann man sich etwas Langweiligeres denken? Statt die Schulden zu vermehren, will man sie abbezahlen. Wie ich die politischen Verhältnisse kenne, wird es Dänemark ein leichtes sein, eine Anleihe von 15 Millionen aufzunehmen. Warum denkt niemand daran? Daß ein Mensch ein Genie sei und seine Schulden nicht bezahle, hört man doch hin und wieder, warum sollte ein Staat nicht das gleiche tun können, wenn nur Einigkeit herrscht. Man nehme also eine Anleihe von 15 Millionen auf, man verwende sie nicht zur Abbezahlung, sondern für öffentliche Belustigungen. [...] Alles würde gratis sein; man ginge gratis ins Theater, gratis zu den öffentlichen Frauenzimmern, man führe gratis in den Tiergarten, man würde gratis begraben, gratis würde die Leichenrede auf einen gehalten; ich sage gratis; denn wenn man immer Geld zur Hand hat, so ist gewissermaßen alles gratis. Niemand dürfte festes Eigentum besitzen. Nur mit mir müßte eine Ausnahme gemacht werden. Ich behalte mir 100 Reichsbanktaler täglich vor, zahlbar in der Londoner Bank; einmal, weil ich mit weniger nicht auskomme, zum andern, weil ich die Idee gehabt habe, und schließlich, weil man nicht wissen kann, ob mir nicht eine neue Idee einfallen könnte, wenn die 15 Millionen aufgebraucht sind.» Überflüssig zu sagen, daß der Staat Dänemark beliebig durch einen anderen Namen ersetzt werden kann und daß auch die Summen heute nach oben korrigiert werden müßten. Der Zwiespalt, um den es geht, ist der zwischen Künstlern — nicht als Beruf, sondern als Veranlagung — und Beamten. Die Menschen, so meinte Sombart, seien entweder Künstler oder Beamte, entweder stehe das Wirtschaftsinteresse im weitesten Sinne im Mittelpunkt des Lebens — wie bei letzteren — oder das Liebesinteresse. Zwei Lebensprinzipien äußerten sich darin: «Die polaren Gegensätze in der Welt sind die bürgerliche und die erotische Natur.» Bei Warhol kann man sich da nicht so ganz sicher sein, wo er steht, was auch seinen Reiz hat. So einfach bipolar funktioniert die Einteilung der Menschen gottlob nicht. Oder doch? Es gibt Künstler-Beamte und es gibt Beamten-Künstler. Die Künstler-Beamten sitzen in den Kulturreferaten oder zuständigen Ministerien und sie sind nichts weiter als Beamte, die (s. o.) durch das vermeintliche Wehen der Genialität in ihrer Nähe sich geadelt fühlen. Sie halten sich für etwas Besseres als diejenigen Beamten, die sich mit der Müllbeseitigung beschäftigen. Sie verstehen sich meistens sehr gut mit den Beamten-Künstlern, die sich — bewußt oder unbewußt — auf sie eingestellt haben. Beide verbindet vor allem das Gehalt oder die Subvention, also, und da sind wir wieder am Ausgangspunkt, das Geld oder, archaischer ausgedrückt, das Gold. Die Künstler-Beamten, die von den Bürgern oder von Staat, Land oder Kommune ernannten Kulturträger oder -hüter verstehen sich gleichzeitig auch als Hüter der Moral. Logisch gedacht, ergibt sich also der Schluß: Kunst = Gold = Moral. «All diese bürgerlichen Faselhänse», schrieb Charles Baudelaire, «die ohne Unterlaß die Worte ‹unmoralisch, Unmoral, moralische Wirkung der Kunst› und ähnliche Dummheiten im Munde führen, erinnern mich an Louise Villedieu, eine Fünffranken-Dirne, die, als sie mich einmal in den Louvre begleitete, den sie noch nie betreten hatte, fortwährend errötete, ihr Gesicht mit den Händen bedeckte, mich alle Augenblicke am Ärmel zupfte und mich vor den unsterblichen Gemälden und Statuen fragte, wie man nur solche Unanständigkeiten öffentlich ausstellen könne.» Ivo Kranzfelder Kurzschrift 3.2000, S. 37–43
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