Tacheles

Zur gängigen Gebäudemetapher promoviert, gehört das «gemeinsame Haus Europa» zum Standardglossar eifriger Architekten, die vom Atlantik bis zum Ural alles überdachen wollen, auf daß kein Grashalm friere. Nimmt man dieselbe Bildfügung und glaubt man also olympia- und hauptstadt-besessenem Politdiskurs, gibt Berlin dafür die ‹Drehscheibe› ab, dessen Zentrum hier mit nebenstehender Photographie markiert werden soll (Berlin-Freunde werden verstehen, daß wir den Q-Damm nie dazu gezählt haben und auch mit dem Alexanderplatz Probleme hätten, statt dessen): Oranienburger Straße, nunmehr 10178 Berlin, Kulturzentrum Tacheles. Ein Hauskonvolut steht da, dessen Rückwand samt noch vorhandener Innenseiten von früher dort angrenzenden Hausteilen nahtlos in die Poesie irgendwelcher Gestelle übergeht, die an die Rückwand montiert sind oder die sich in dem Hinterhof, einem offenen Feld, wie fallengelassen herumlümmeln — seien dies nun riesige Masken, ausrangierte Planwagen oder ein im Schlamm halb versinkender Autokorso. Hält man die Nase ins Gemäuer, stinkt es nach Abortröhren, Stromleitungen hängen herum, zähes Leben ist hier hartnäckig bis widerlich eingegraben, und die teils offenen Etagen bilden eine Geheimschrift, eine écrypture (Derrida), die sich der schnellen Lesbarkeit verweigert. Am Tacheles wird die Wand selbst zur Allegorie des Hauses Europa. Risse gehen durch das Gebäude, gegen die Illusion eines denkbaren Ganzen werden Brüche vertieft und, typisch allegorisch, das Nichtmehraufgehen von Lektüren in Anspruch und Wirklichkeit demonstriert. Einzig bleibt dem Melancholiker, auf Reste wie auf Spiegelscherben in seiner Hand zu starren und über Spuren der Anarchitektur zu grübeln.

Vielleicht nur einen Augenaufschlag lang macht diese Häuserwand die penetrant vorgetragene Positivität des Europa-Gedankens vergessen und zeigt die Kehrseite einer ursprünglich liberalen und toleranten Utopie, die nun sich immer unduldsamer allem Aushäusigen, Außereuropäischen gegenüber verriegelt. Die Hausmetapher Europas, durch ein paar dänische Stimmen gegen Maastricht choquant einiger Dachziegel beraubt, scheint in dieser Häuserwand noch einmal in Frage gestellt. Im ‹Tacheles›-Europa der zwei Geschwindigkeiten kommt die Rhetorenwendung der (in)kommunikativen Wohnlichkeit zum Stillstand, kaschiert sie ohnehin nur das Bausparkassenhirn auf sich selbst eingeschworener Europäer, die für sich bleiben wollen, allenfalls noch den mezzogiorno Deutschlands, die Ex-DDR, zähneknirschend in Kauf nehmend. Mittlerweile wird all das zum hygienischen Problem — allerdings für die anderen Kontinente, die mit Europa als «Popel aus einer Konfirmandennase» (Gottfried Benn), dieser teuersten Geld- und Müllfrage leben müssen. Aber, so prosten die Gewinner sich zu, das Haus wird nicht krachen, es schützt vor Stürmen, hält den Hintern warm und hat ein Atlantik-Schwimmbad als sicheren Hort; den Südwind aus der Dritten Welt werden wir aushalten: Wer sind die Kurden, Öl gibt's schließlich woanders (haben die Iraker für uns bezahlt ohne Pardon); Somalia etc. sind in behaglicher Entfernung, und sollte nach Abzug aller Kosten etwas übrigbleiben, wird das eben Entwicklungshilfe genannt.

Ohne Nostalgie: vielleicht allegorisiert die Tacheles-Wand auch ein besseres Leben im widerspenstigen Fragment, eine nicht nur romantische Sehnsucht nach dem Brüchigen, das sich Ganzheiten beharrlich entgegenstellt — zumal solchen der Marktherrschaft, die schon innereuropäisch (so Heiner Müller) «das Gespenst des Kommunismus ablöst, den neuen Kunden seine kalte Schulter zeigt, den Befreiten das eiserne Gesicht seiner Freiheit». Oder wird vielleicht auch die Ruine schon zum Habitus, wird sie kultiviert goutabel auf postmoderne Weise, die schlimmste Krisenausdrücke zu beliebigen Modezeichen werden läßt? So zu sehen im benachbarten Kreuzberg, aus dessen Ruinen schicke Eigentumswohnungen mit komfortablen Abmessungen entstehen. Und binnen kurzem wird wohl auch die Oranienburger Straße planiert sein: mit Gebäuderiesen der Hochfinanz, oder als Museumsinsel, was wohl egal, weil im Effekt dasselbe. Mag es noch andere dritte Wege geben, im Moment gilt leider nur konstruktiver Defaitismus: tertium non datur im Leerraum Europas zwischen Allegorie und Utopie. Es geht nicht so, und es geht auch noch nicht anders.

Ralph Köhnen


Laubacher Feuilleton 6.1993, S. 1
 
Mo, 23.03.2009 |  link | (1606) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftliches






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