Beamtenwerdung Herr L. R., 1944 geboren in gesunder reichsdeutscher (westlich der Elbe) Zeugung von einem Leutnant (der in den Krieg wieder mußte und dann gottseidank doch wiederkam und seiner bis zur Zeugung unbescholtenen deutschen Frau ein guter Beamter wurde) wuchs mit allen Erwartungen in der Bundesrepublik Deutschland unauffällig strebsam auf, der Vater längst besserer Beamter (der Großvater war nur ein kleiner Obersekretär) — der Aufstieg einer Familie. Dieses ist der kleine Lebenslauf des L. R. bis zu einem Zeitpunkt, zu dem er als letzter im Glied der männlichen Abstammungslinie mit fast 50 Jahren einen ehrenwerten Posten als Beamter antreten sollte. Doch in diesem Moment wurde die einstellungsbefugte Staatsregierung skeptisch — nicht über die Qualifikation, da würde die Regierung ohnehin andere Vorstellungen entwickeln, sondern über das Deutschsein des Kandidaten. Da wolle man einen «gültigen Staatsangehörigkeitsausweis (Ablichtung genügt)». Also Paß her, um sich als Deutscher auszuweisen — Ablichtung davon, wie gewünscht, nun ist der bürokratische Kreislauf geregelt. Aber der ministeriale Bescheid enthebt des Frohlockens. Es geht um ein Originalzeugnis, den offiziellen «Staatsangehörigkeitsnachweis», von dessen spezieller Qualität niemand etwas Genaues weiß, es sei denn, er ist Betroffener. Also fernmelde ich der anstellungswilligen Behörde im Freistaat Bayern, daß ich in Niedersachsen meine dort beurkundet zugestandenen Bürgerrechte als deutscher Wähler noch einmal bescheinigen lassen werde. Ich bin dort gemeldet worden, hatte mich volkszählen lassen. Ich bin registriert! Das sei ein Weg aufs Amt, sagte ich dem fernmündlichen Sachbearbeiter. Der lachte und meinte: «Vielleicht in Niedersachsen.» Der Weg aufs Amt sollte kurz sein, nicht aber der des procedere. Der Beamte, zukünftiger Kollege im Status, weiß, was er demselben schuldig ist: Da bedarf es: Geburts- bzw. Sterbeurkunde des Großvaters, Geburts- bzw. Sterbeurkunde des Vaters und Geburts- bzw. Sterbeurkunde der beantragenden Person, ach so, das sind Sie ja selbst, also nur die Geburtsurkunde, oder sind Sie vielleicht unehelich. Dann wären in derselben Reihenfolge auch die Mütter bzw. Großmütter gefragt. Gottseidank für die katholische Moral der Eltern, die mich erst im ordentlichen Ehestand zeugten und somit den weiblichen Teil der Familie amtlich entsorgten. Ein emsiger Briefwechsel entsteht. Man könne das zwar auch per Computer nachfragen, aber wer bezahle dann die Kosten? Also geht es mit Vorkasse, Gebühren und Porto in Briefmarken beiliegend, zurück mit Bitte um baldigen Bescheid. Drei mögliche Monatsgehälter sind schon vorbei, als alle Urkunden endlich gesammelt sind. Der einstellende Staat hat schon ‹Sorge›, ob da vielleicht eine Fehlfarbe berufen sei. Ein Aufatmen. Wieder zum niedersächsischen Schalterbeamten und forsch gesagt: «Hier, alles klar, ich bin der Deutsche, den Sie registriert haben.» Der Mann ist freundlich ob solcher Emphase für das Deutsche, schüttelt aber dennoch den Kopf. Jaja, nicht unehelich, da war er noch einmal glücklich. Aber ob ich nicht gelesen habe? 1. Wohnorte des Großvaters von Geburt bis zum Tod. 2. Wohnorte des Vaters von Geburt — ach, der Herr Vater lebt noch — und 3. natürlich die Wohnorte von Geburt an bis heute. Wieder ein Monat ohne Anstellung, weil mein korrekt deutschweimarisch kleinbeamteter Großvater offenbar nicht an den Enkel gedacht hatte und eben keine sorgfältige Akte seiner Einwohnermeldebestätigungen hinterlassen hat. Oder sollte diese im letzten Krieg, in dem der Vater zwanzigjähriger Leutnant war, bei der Flucht vor der Westfront nachlässig liegen geblieben sein? Wenn ja, dann sind vier Monatsgehälter für den Enkel eine gerechte Strafe. Der erbt ja schließlich (wofür er Steuern bezahlt). Die Geschichte des Großvaters — in Parenthese — war ja auch etwas unübersichtlich. Der Mann war, im Elsaß, als das vor dem 1. Weltkrieg deutsch war, Berufssoldat auf Zeit, zog für die Deutschen in die Schlacht, ging dann doch nicht ins französische Elsaß zurück, sondern wurde deutscher Zollbeamter mit vielfach wechselnden Ausbildungsplätzen in Ostdeutschland, bis er an die luxemburgische Grenze kam, dort eine Luxemburgerin heiratete und dann an die niederländische Grenze in den Selfkantkreis versetzt wurde, wo er in Eile meinen Vater und später in Geilenkirchen meine Tante zeugte. Dann starb er in einer Aachener Klinik. Ach, wäre er doch in seinem heimatlichen Bett gestorben. Denn so hat er mit seinem Tod noch einmal die Meldegesetze kompliziert, weil er zwar in Geilenkirchen gemeldet war, aber in Aachen unbotmäßig gestorben ist. Dafür brauchten die Behörden zur Bestätigung und gegenseitigen Versicherung wiederum einen Monat. Großvater, Du, den ich nicht kenne, ich Dein Enkel, welchen Zoll hast Du mir abverlangt, Du Wanderer zwischen den Grenzen und ohne Akte im Stahlschrank, da heute doch jeder Lastwagen heute seinen Fahrtenschreiber hat. Die Daten waren zusammen, der Beamte zufrieden, ich fröhlich. Also: Nun geben Sie mir doch den Stempel, Sie wissen doch, ich, der Rheinländer, nach Niedersachsen verschlagen, wegen der «Residenzpflicht» ins Bayerische wechselnd. Ich sage ja nichts von Europa, ja gewiß, was heißt da Maastricht, das war nicht so weit von meinem Geburtsort, aber jetzt? Es könne schon noch drei Wochen dauern, meinte der freundlich-öffentliche Bedienstete hinter der Theke, das müsse ja nun alles geprüft werden, per Abfrage mittels Computer. Ich bezahle die recht hohen Gebühren für mein — noch — potentielles Deutschsein und bekomme nach weniger als zehn Tagen meine Staatsangehörigkeitsurkunde. Das war schnell, weil wir uns verstanden haben. Auf dem gestempelten Schreiben steht gedruckt, ich sei «deutsche(r) Staatsangehörige(r)». «Dieser Ausweis gilt bis zum 12. Oktober 2002.» Sollte es notwendig werden, bin ich dann wieder vogelfrei. Lothar Romain Der Autor ist — als Präsident der Universität der Künste, also berlinischer Beamter — am 14. Juli 2005 gestorben. Laubacher Feuilleton 8.1993, S. 3 und Überall ist Laubach.
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