Der Sitzredakteur

Gewiß, die Zeiten ermuntern nicht gerade, über Berufswünsche oder Wunschberufe nachzudenken und sie gar zu äußern. Trotzdem bin ich sicher, daß sich auch heute Kinder und Jugendliche Wunschberufe ausmalen. Und nicht nur sie. Wer als Erwachsener Schwierigkeiten hat, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, kommt leicht ins Grübeln, womit sich denn ein warmes Süppchen, vielleicht sogar ein bißchen allgemeines Äquivalent (vulgo: Knete, Marie, Stütz etc.) verdienen ließe. In solchem Nachdenken befangen, funkte es plötzlich bei mir: Sitzredakteur! Ich weiß nicht mehr, wo ich von diesem ehrenwerten Saisonjob gelesen hatte. Vielleicht in einem der blauen Bände des Ehrenbürgers von Chemnitz oder in einer politischen Biographie aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Egal. Der alte Meyer von 1897 gibt sichere Auskunft:

«Sitzredakteure nennt man die für Preßvergehen gesetzlich verantwortlichen und bestraften Scheinredakteure (Strohmänner), welche mit der wirklichen Redaktion nichts zu tun haben. Ihre Vorschiebung bildet ein oft benutztes Mittel, den eigentlichen Thäter der Strafe zu entziehen und so das Gesetz zu umgehen.»

Erwerbslose wurden gerne als Strohmänner eingesetzt. Und damit kein Zweifel über ihre Tätigkeit entstehen konnte, nannte B. Traven so einen: «Brumm-Redakteur», was allerdings bei Tucholsky Zweifel an Travens Deutschkenntnissen weckte. Gleichviel: der Mann hatte für ein paar Wochen oder Monate ausgesorgt, und wurde er nach dem Knast wieder in die Freiheit der Arbeitslosigkeit entlassen, wartete auch noch ein kleines Sümmchen auf ihn.

Warum nur hatte ich daran nicht gedacht, warum hatte ich sogar an seiner politischen Schläue gezweifelt? Ich kannte doch seine Schlitzohrigkeit. Jetzt aber ist alles klar: Die Verschärfung des saarländischen Pressegesetzes ist keineswegs der gekränkten Eitelkeit des Ministerpräsidenten geschuldet. Vielmehr verdankt sie sich der genialen Strategie Oskar Ls, der selbst seine Parteifreunde mit diesem Coup überraschte. (Daß ihm Politiker, Wirtschaftsführer und andere Freunde der Freiheit zumindest klammheimlich Beifall zollten, lag nur daran, daß es ihnen an Weitsicht mangelt.)

Es geht nicht darum, «der deutschen Presse einen regelrechten Maulkorb zu verpassen», wie der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger mutmaßt, und schon gar nicht darum, daß den Journalisten «Handschellen angelegt» werden sollen, wie die liberale Justizministerin mit dem langen Namen befürchtet (Der Spiegel, Nr. 27/4.7.1994). Nein, was Oskar L. da in Gang gebracht hat, ist ein brillantes, lang-fristiges Programm zur Senkung der Arbeitslosenrate, das zudem nicht einen Subventionspfennig erfordert.

Nicht mehr nur Zeitungs- und Zeitschriftenredakteure müßten sich jede Menge Brumm- und Sitzredakteure in Reserve halten (welch Reservearmee!), auch Rundfunk- und Fernsehanstalten kämen um Sitzredakteure im Bereitschaftsdienst nicht herum. Nicht zu vergessen die beträchtliche Zahl von Zensoren, besser: von festangestellten (verbeamteten?) hauptberuflichen Lesern, Hörern und Sehern — natürlich auch weiblichen.

Nicht irritieren sollte bei diesem Plan, daß Der große Herder in seiner Ausgabe von 1935 unsern Aushilfsjob ab 1933 für abgeschafft erklärt. Erstens galt diese Abschaffung im Prinzip ja nur zwölf Jahre, und zweitens bestand ein gewisser Fortschritt darin, daß eben gleich ganze Redaktionen ... Aber so weit gehen meine Erwartungen nicht. Mir genügt es, wenn Oskar L. den richtigen Einstieg konsequent weiterverfolgt.

Auch der mögliche Einwand, daß der Sitzredakteur lediglich bei der oppositionellen Arbeiterpresse seine Existenz sichern konnte und heute doch nicht mal ein politischer Journalismus (Schere im Kopf) zu finden wäre, ist nicht nur nicht stichhaltig, sondern ausgesprochen kleingeistig. Hier ist Oskar L. voll und ganz zu folgen: Wenn es keine oppositionelle Presse gibt, muß mit Journalisten angefangen werden, die über Rotlichtviertel und andere unappetitliche Milieus schreiben. Da läßt sich doch in allen Medien genügend finden. Außerdem ist es wirklich nicht schwierig, die Schraube behutsam anzuziehen. Wer merkt das schon? Und wenn es nicht gleich auf Bundesebene zu machen ist (schon wieder die Medien) — das Saarland soll auch ganz schöne Ecken haben.

Auf alle Fälle: Mensch Oskar, Genosse, mach mo dabba, ich bin arbeitslos.

Manfred Jander

Laubacher Feuilleton 12.1994, S. 1
 
Mi, 04.02.2009 |  link | (2718) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftliches






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