Das Geheimnis der Currywurst Heinz Ohff «Bier is ooch Schtulle» Die Szene erlebt man so oder ähnlich nicht selten. Ort der Handlung: meist ein Restaurant am Kurfürstendamm oder in dessen Nähe. Personen der Handlung: ein ausländisches Pärchen, zuweilen sehr jung, zuweilen auch sehr alt oder bestes Mittelalter, wir als Lauscher am Nachbartisch. Der Dialog erfolgt entweder in stöckerigem Deutsch oder in oft ebenso radebrechendem Englisch. Nach einigen Verständigungsschwierigkeiten mit dem Ober stellt sich heraus, daß die Besucher «etwas typisch for Berlin» essen wollen. Und was empfiehlt der Ober? Natürlich Eisbein. Es gibt kein größeres Vergnügen als zu beobachten, wie das fremde Paar auf die beiden Riesenteller, die ihm nach einer Weile vorgesetzt werden, reagiert. Die Skala reicht von blankem, aber stumm-betretenem Entsetzen bis zum Ausstoßen spitzer schriller Schreie. Einen Amerikaner hörte ich das barbarisch-teutonische Gericht mit den Worten zurückweisen: «I ordered Icebein — but this is the foreleg of a pig!» Der Berliner liebt es deftig, schon von frühmorgens an. «Beim Berliner weiß man nie, ob er frühstückt oder zu Mittag ißt», zitiert Kiaulehn einen reisenden Amerikaner. Auch was Glaßbrenner seinen Eckensteher singen läßt, gehört in diesen Zusammenhang: Der beste Leben hab ick doch Ick kann mir nich beklagen Pfeift ooch der Wind durchs Ärmelloch Der will ick schon vatragen. Det Morjens, wenn mir hungern dhut Eß ick ne Butterstulle Dazu schmeckt mir der Kümmel jut Aus meine volle Pulle. Worauf überhaupt kein Wert gelegt wird, ist die Dekoration. In Berlin hat man anscheinend nie «mit den Augen gegessen». Das Eisbein wirkt so wenig einladend, weil die bleiche Haut des Beinfleisches (sie zittert, wenn man den Teller vorgesetzt bekommt, wie Pudding) in keiner Weise mit den Beilagen kontrastiert, dem ebenso bleichen Sauerkraut und den Kartoffeln. Aber was heißt hier Beilagen? Sie versuchen das schlabbernde Eisbein quantitativ noch zu übertrumpfen. Nicht auf Schönheit legt der Berliner Wert, sondern auf Menge. Das gilt bereits für die schon von Glaßbrenner erwähnte Stulle, die grundsätzlich Schtulle ausgesprochen wird. Es handelt sich um dickgeschnittene, belegte Klappbrote, auf die ein richtiger Berliner als Zwischenmahlzeit nur ungern verzichtet, es sei denn anderer Genüsse wegen («Bier is ooch Schtulle»). Es gibt eine weitere, ganz ähnliche Redensart. Sie gilt dem Umstand, daß in Berlin kaum ein Gericht ohne Eingelegtes serviert wird. Selbst das Eisbein wird in irgendeiner versteckten Plattenecke noch ein Stück davon aufweisen. «Saure Jurke», hört man darum häufig, «is ooch Kompott.» In keiner Stadt der Welt werden, zum Beispiel am Schwimm- und Badestrand, von fliegenden Händlern in Salz eingelegte Gurken verkauft; in Berlin finden sie reißenden Absatz. Noch dröhnt mir vom letzten Besuch im nun abgerissenen Sportpalast der markerschütternde Werbeschrei des Verkäufers in den Ohren: «Deli - ka - teß - gur - kennn!», wobei man sich das ß stark gelispelt vorstellen muß. Das hat — merkwürdig, wie lange längst vergangene Historie nachwirkt — mit Friedrich dem Großen zu tun; vielmehr mit einem der Gründe, weshalb er den Berlinern nicht übermäßig sympathisch war. An der Erfindung der Salz- oder Delikateßgurke ist der Alte Fritz unschuldig. Die haben die Berliner selbst kreiert, und sie entspricht auch durchaus dem Geschmack der Stadt, wie man bis heute sieht. Aber um Geld für seine vielen Kriege einzutreiben, war der König äußerst phantasiereich im Erfinden neuer Steuern. Und da der preußische Staat innerhalb seiner Grenzen das Salzmonopol besaß, befahl Friedrich seinen Untertanen, regelmäßig eine bestimmte Menge dieses weißen Gewürzes zu kaufen, und zwar weit mehr, als Bürger gewöhnlich benötigen. Jeder Haushalt mußte sogar ein «Salzbuch» führen, aus dem hervorging, daß auch tatsächlich die befohlene Menge erworben worden war. Was tun mit all den Säcken, die jeder bei sich zuhause herumstehen hatte? Es werden die schlauen Berliner Hausfrauen gewesen sein, die bald herausfanden, wie der nutzlose Überfluß genutzt werden konnte. Sie entdecken plötzlich eine Vorliebe für «Saures», für Eisbein mit Sauerkraut, für eingelegte Gurken, für Aal in gesalzenem Aspik und Soleier. Ein einfaches Rezept, im Falle der vielgeliebten sauren Gurken lautet es, dem Universal-Lexikon der Kochkunst (Leipzig, 2 Bände, um 1900) zufolge: «Man wählt hierzu nur mittelgroße, etwa handlange Gurken und verwirft sowohl die Schlangengurken als auch diejenigen, welche oben dick und gegen den Stiel zu dünn sind, wäscht und bürstet sie sauber, trocknet sie ab und schichtet sie in ein weingrünes Faß; hat man kein solches bei der Hand, so muß das Faß mit Spiritus und einer starken Bürste überall ausgerieben werden. Danach schneidet man Dill in fingerlange Stücke, belegt den Boden des Fasses mit einer 18-20 Centimeter hohen Schicht Dill und füllt das Faß mit abwechselnden Lagen von Gurken und Dill bis fast oben herauf. Zu 12 Liter hartem Brunnenwasser nimmt man 1 Kilogramm Salz, löst das Salz in dem kalten Wasser auf, gießt letzteres durch das Spundloch in das Faß, rüttelt das Faß öfters dabei, damit das Wasser überall gleichmäßig hinkommt, nagelt dann ein Stück Gaze über das Spundloch und legt das Faß an einen schattigen Platz. Sobald die Gärung eintritt, füllt man gesalzenes Wasser nach. Im Verlauf von etwa vier Wochen kann man das Faß öffnen und die Gurken in Gebrauch nehmen; bis dahin ist es aber notwendig, das Faß von Zeit zu Zeit umzuwenden» (dem Kapitel Rezepte aus preußischen Landen entnommen). Noch die Vorliebe der Jekkes, der aus Deutschland zugewanderten Israelis, für Saures schon zum Frühstück dürfte von Berliner Juden stammen, die emigrieren mußten, und somit weither von Friedrich dem Großen. Der Berliner hat es auch als einen Vorteil begriffen, daß sauer am Ende weniger lustig als vielmehr durstig macht. In Ermangelung von Wein, der importiert werden mußte, spülte man schon zu Zeiten Friedrichs mit Unmengen von Bier und Schnaps nach, denn Getreide und Hopfen wuchsen genug in der Mark Brandenburg, und auch an Wasser zum Brauen herrschte nie Mangel. Georg Forster, der Natur- und Völkerkundler und erste Reiseschriftsteller in deutscher Sprache, der kurz nach dem Tode Friedrichs des Großen nach Berlin kam: «Ich hatte mich in meinen mitgebrachten Begriffen von dieser großen Stadt sehr geirrt. Ich fand das Äußerliche viel schöner, das Innerliche viel schwärzer, als ich's mir gedacht hatte. Berlin ist gewiß eine der schönsten Städte Europas. Aber die Einwohner! Gastfreiheit und geschmackvoller Genuß — ausgeartet in Üppigkeit, Prasserei, ich möchte fast sagen Gefräßigkeit. Freie, aufgeklärte Denkungsart — in freche Ausgelassenheit und Freigeisterei.» Da ist es heraus. Forster hat's gesagt, und nach ihm haben es viele andere unabhängige Geister, Berliner und Nicht-Berliner, bestätigt: Der Berliner gilt als gefräßig. Man könnte glauben, er lebe in der beständigen Furcht vor dem Verhungern. Obwohl er vielfach seine von daheim mitgebrachten Stullen in der Aktentasche, oft wohl ihr einziger Inhalt, auf Schritt und Tritt mit sich herumschleppt, trifft man ihn bestimmt an irgendeiner der unzähligen Imbißbuden wieder, von denen sich an manchen Ecken gleich mehrere befinden. Auf dem knappen Kilometer zwischen Cottbusser Tor und Hermannsplatz bieten, weithin duftend, nicht weniger als siebzehn derartiger Stände ihre nahrhaften Genüsse an. Neben belegten Broten vertilgt der Berliner zusätzlich Riesenmengen von Buletten, einer nicht immer ganz koscheren Abart der norddeutschen Frikadelle, von Würstchen, Soleiern und sauren Gurken. «Happen» nennt man die für jeden Berliner so wichtigen Zwischenmahlzeiten. Geändert haben sich die Moden und Lieblingsspeisen, nicht jedoch die Attitüde: «Jehn wa erstmal 'n Happen essen!» Solange es Aschinger gab mit zeitweilig bis zu vierzig Filialen im alten Groß-Berlin, bestand der Lieblingshappen aus jenem Teller Erbsensuppe mit Speck, der dreißig Pfennige kostete und bei dem man aus dem Korb am Stehtisch so viele Brötchen nehmen durfte, wie man verzehren konnte. Unzählige Studenten und sonstige arme Schlucker haben sich von Aschingers in eigener Bäckerei hergestellten Kleinschrippen buchstäblich ernährt.* Die Schrippe, wie hierzulande Brötchen oder Semmeln heißen, liebt der Berliner übrigens seit jeher pappig. Sie darf, darin dem amerikanischen Hot-dog-Brötchen ähnlich, keinen Eigengeschmack besitzen, und wer an knusprig nord- oder westdeutsche Brötchen mit brauner Kruste gewöhnt ist, wird es schwer finden, die Schrippe einigermaßen zu goutieren. Alle Berliner Lieblingsspeisen in den Schatten gestellt hat jedoch jenes merkwürdige Happenerzeugnis, dessen meist etwas brenzlige Fritteusen-Düfte schon von weitem einen Berliner Imbiß-Stand verraten: die Currywurst, ausgesprochen Körriwurst (oder -wurscht). Das indisch-britische Mischgewürz, das ihr den Namen gab, hat allerdings nur wenig oder gar nichts mit ihr zu tun und läßt sich aus dem zubereiteten Leckerbissen auch nicht ohne weiteres herausschmecken. Um so besser informiert sind wir über seinen Geburtstag. Die Currywurst gibt es genau seit dem 4. September 1949. An diesem denkwürdigen Tag mußte Herta Heuwer in ihrer Imbißbude am damals noch reichlich verrufenen Stuttgarter Platz (Stutti) sträflich gelangweilt haben, weil aus einem unbekannten Grund die Kunden ausblieben. So zerschnitt sie ein Bratwürstchen, das auf dem Grill schwarz zu werden drohte, in bißgerechte Stückchen, goß Worcestersauce darüber sowie reichlich Ketchup, wobei sie das seltsame Gemisch zusätzlich mit einer Prise Curry oder rotem Paprika würzte. Es muß dann doch ein Kunde gekommen sein, wohl sogar mehrere, denen sie die neue Köstlichkeit vorsetzte. Auf jeden Fall hat seither die Currywurst fast alle Berliner Lieblingshappen, sogar die Bulette, in die zweite Reihe verwiesen. Da Frau Heuwer klug genug war, ihre Erfindung beim Münchner Patentamt schützen zu lassen (Warenzeichen 721 319), dürfte sie inzwischen erheblich von ihr profitiert haben. Man schätzt, daß in Berlin Tag für Tag rund eine halbe Million derart präparierter Bratwürste verzehrt werden, mit ihren 400 Kalorien übrigens ausgesprochene Dickmacher. Zum Vergleich: Ein Hamburger enthält knapp 90 Kalorien. Was das Geheimnis der Currywurst sein mag, steht dahin. Sie hat sich nirgendwo sonst in diesem Maße durchsetzen können wie in Berlin. Das mag damit zusammenhängen, daß der Berliner seine Frittenbude ziemlich wahllos aufsucht. Wo er gerade vorbeikommt, bleibt er stehen und verputzt etwas. Das erklärt jedoch nicht alles. Es gibt selbst innerhalb dieses unkulinarischen Gewerbes eine geheime Rangordnung, die sich herumspricht. So galt und gilt zur Zeit, da dies niedergeschrieben wird, ein Imbißstand am Charlottenburger Amtsgerichtsplatz, Ecke Kantstraße, als führend in der Currywurst-Qualität. Dort werden übrigens nicht die andernorts obligaten Pommes dazu serviert, die man nicht französisch aussprechen muß, sondern deutsch wie geschrieben, nämlich Pomm, aber dann meist mit dem altpreußischen Zusatz Fritz. Pomm Fritz sind am Amtsgerichtsplatz verpönt, weil bei Dauergebrauch das Fett sich zunehmend verschlechtert, und gutes Fett ist das A und O bei Currywürsten; vielleicht das Geheimnis, warum es am einen Stand vorzüglich mundet und am anderen überhaupt nicht. In jüngster Zeit erst ist der Currywurst ein ernsthafter Konkurrent erwachsen in Gestalt des türkischen Döner Kebap. Waren bis vor kurzem nur Türken die Kunden von Türken, die von konisch zulaufenden und rotierenden Kalbfleischgebilden kleine gegrillte Stücke abschnetzelten und im Fladenbrot (gefüllt mit Zwiebeln und Salat) verkauften, so hat sich das Döner längst auch bei Deutschen durchgesetzt. In der Potsdamer Straße gibt es inzwischen fast mehr türkische Imbißstände als deutsche. [...] Die Kempinski-Erben mußten Berlin während des Dritten Reiches verlassen. kein Berliner, der nach London kam, ließ es sich nehmen, nun dort bei Kempinski zu speisen. Selbst der damalige deutsche Botschafter Ribbentrop soll einmal im Lokal gesichtet worden sein. Nach dem Krieg ließ sich Kempinski wieder am Stammort nieder - das gleichnamige Hotel am Kurfürstendamm kann sich auf eine inzwischen Alt-Berliner Tradition berufen. Die Hotelfront zeigt zur Fasanenstraße. Wer, vom Kurfürstendamm kommend, in sie einbiegt, stößt als erstes auf eine Currywurstbude. Sie ist meist dicht umlagert, selbst von Kempinski-Gästen, die die Berliner Köstlichkeit wenigstens einmal ausprobieren wollen. Das Geheimnis ihres Erfolgs? Ein Budenbesitzer hat mir in einer schwachen Stunde verraten: «Wissen Sie, das liegt an der Wurscht. In Westdeutschland nimmt man einfach Bratwurst, aber wir hier ...» Er deutete auf den bruzzelnden Grill und schwieg vielsagend. Gehen wir dem nicht weiter auf den Grund, belassen wir es bei der Andeutung. Laubacher Feuilleton 7.1993, S. 4; Nachdruck aus: 2 mal Berlin. Piper Verlag, München 1985, S. 177–189; mit freundlicher Genehmigung von Heinz Ohff.
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