Die Verirrungen von Herz und Geist

«Etwas verstehe ich nicht», unterbrach ich ihn: «Wie Leute, die nichts gelernt haben oder glauben, sie müßten alles Gelernte vergessen, ohne Unterlaß miteinander reden können. Man muß doch einen ungemein produktiven Geist haben, um ohne jegliche Kenntnisse eine andauernde Unterhaltung zu führen. Denn schließlich sehe ich doch, daß man in der Gesellschaft immerfort redet.»

«Das kommt daher», erkärte er, «daß man den Dingen nie auf den Grund geht. Sie haben bemerkt, daß in Gesellschaft dauernd geredet wird. Haben Sie nicht auch bemerkt, daß man sich dabei nie etwas sagt? Daß ein paar Lieblingsphrasen, einige gesuchte Wendungen und Ausdrücke, ein fades Lächeln und ein kleines maliziöses Mienenspiel alles andere ersetzen?»

«Aber man erörtert und disputiert doch fortwährend!»

«Eben! Man tut dies, ohne nachzudenken; und gerade das ist der höchste Gipfel des guten Tons. Kann man einen Gedanken weiterverfolgen, ohne in schwerfällige Ausführlichkeit zu verfallen? Man kann ihn in die Diskussion werfen, aber hat man je die Zeit, ihn zu begründen? Verstößt man nicht sogar gegen die gute Sitte, wenn man über ihn nachdenkt? Doch! Eine Unterhaltung muß, um lebhaft zu sein, immer eine gewisse Sprunghaftigkeit besitzen. Wer zum Beispiel von Krieg spricht, muß sich von einer Frau unterbrechen lassen, die das Thema Gefühl aufs Tapet bringt; sie wiederum muß — mitten aus den Gedanken heraus, die ein so hohes und von ihr so gut beherrschtes Thema mit sich bringt — verstummen, um ein galant obszönes Liedchen anzuhören; worauf der oder die, welche es singt, dann zum großen Bedauern der ganzen Gesellschaft einem Stückchen Moral Platz machen muß, das jedoch sogleich wieder unterbrochen wird, damit man sich nichts von einer mehr oder minder gut vorgetragenen Verleumdungsgeschichte entgehen läßt, die mit dem größten Vergnügen angehört wird, aber alsbald durch Betrachtungen über Musik und Dichtkunst ersetzt wird, die aus Unrichtigkeiten oder abgegriffenen Formeln bestehen und bald wieder verschwinden, weil ihnen politische Gedanken über die Regierung folgen, die ihrerseits von dem Bericht einiger beim Spiel erlebter, besonders überraschender Züge unterbrochen werden, bis schließlich einer der Kavaliere nach langem Sinnen die Runde durchbricht und alles durcheinanderbringt, indem er einer Frau über die Köpfe der anderen hinweg zuruft, sie habe zuwenig Rouge aufgelegt, oder ihr sagt, er finde sie schön wie einen Engel.»

«Wirklich ein bizarres Gesellschaftsgemälde!» fand ich.

Crebillon der Jüngere

Claude Prosper Jolyot de Crébillon. Geboren in Paris am 14.2.1707, dort gestorben am 12.4.1777. Französischer Schriftsteller, aus der Zeit des Ancien Régime.

Claude P. J. Crebillon, Deutscher Bücherbund, Stuttgart/Hamburg o. J., S. 187 – 188

Laubacher Feuilleton 1.1992, S. 2

 
Mo, 13.10.2008 |  link | (1367) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftliches






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