Die Lust am Text

das ist jener Moment, wo mein Körper seinen eigenen Ideen folgt — denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich. [Seite 26]


Mit jemandem zusammensein, den man liebt, und an etwas andres denken: so habe ich die besten Einfälle, so finde ich am besten, was ich für meine Arbeit brauche. Das gleiche gilt für den Text: er erregt bei mir die beste Lust, wenn es ihm gelingt, sich indirekt zu Gehör zu bringen; wenn ich beim Lesen oft dazu gebracht werde, den Kopf zu heben, etwas andres zu hören. Ich bin nicht notwendig durch den Text der Lust gefesselt; es kann eine flüchtige, komplexe, unmerkliche, geistesabwesende Handlung sein: eine plötzliche Kopfbewegung, wie die eines Vogels, der nicht hört, was wir hören, der hört, was wir nicht hören. [Seite 38]


Manche wollen einen Text (eine Kunst, eine Malerei) ohne Schatten, der getrennt ist von der «herrschenden Ideologie»; aber das wäre ein Text ohne Fruchtbarkeit, ohne Produktivität, ein steriler Text (siehe den Mythos von der Frau ohne Schatten). Der Text braucht einen Schatten: dieser Schatten, das ist ein bißchen Ideologie, ein bißchen Darstellung, ein bißchen Subjekt: notwendige Geister, Luftblasen, Streifen, Wolken: die Subversion muß ihr eigenes Halbdunkel hervorbringen.

(Man sagt gewöhnlich «herrschende Ideologie». Dieser Ausdruck ist unangebracht. Denn was ist Ideologie? Eben gerade die Idee, insofern sie herrscht: Ideologie kann nur herrschend sein. So richtig es ist, von «Ideologie der herrschenden Klasse» zu sprechen, da es ja eine beherrschte Klasse gibt, so inkonsequent ist es, von «herrschender Ideologie» zu sprechen, weil es keine beherrschte Ideologie gibt: auf der Seite der «Beherrschten» gibt es gar nichts, keinerlei Ideologie, außer eben gerade — und das ist die letzte Stufe der Entfremdung — die Ideologie, die sie gezwungenermaßen (um symbolisieren, also um leben zu können) von der Klasse, die sie beherrscht, übernehmen. Der soziale Kampf ist nicht auf den Kampf zweier rivalisierender Ideologien reduzierbar: es geht um die Subversion jeder Ideologie.) [Seite 49]


Über die Lust am Text ist keine «These» möglich; höchstens eine Inspektion (eine Introspektion), die zu nichts führt. Eppure si gaude! Und dennoch und gegen jedermann genieße ich den Text.

Einige Beispiele wenigstens? Man könnte an eine riesige kollektive Ernte denken: man würde alle Texte sammeln, denen es gelungen ist, bei jemandem Lust zu erregen (woher auch immer die Texte stammen mögen), und man würde diesen Textkörper ausstellen (corpus: das ist es), so etwa die Psychoanalyse den erotischen Körper des Menschen ausgestellt hat. Es ist jedoch zu fürchten, daß eine solche Arbeit nur darauf hinausliefe, die ausgewählten Texte zu erklären; es käme zu einer unvermeidlichen Gabelung des Projekts: da die Lust sich nicht sagen läßt, würde sie in den allgemeinen Weg der Motivationen eintreten, von denen keine definitiv sein könnte (wenn ich hier von Lust am Text spreche, so immer en passant, in ganz ungesicherter, keineswegs systematischer Art). Mit einem Wort, eine solche Arbeit könnte nicht geschrieben werden. Um ein solches Sujet kann ich nur kreisen — und daher ist es besser, sie kurz und alleine zu tun als kollektiv und unendlich; man verzichtet besser darauf, vom Wert, der Begründung der Affirmation, zu den Werten überzugehen, die Wirkungen der Kultur sind. [Seite 51]


Sich eine Ästhetik ausdenken (wenn das Wort nicht zu sehr entwertet ist), die restlos (vollständig, radikal, in jeder Hinsicht) auf der Lust des Konsumenten beruht, wer er auch sei, welcher Klasse, welcher Gruppe er auch angehört, ohne Ansehen der Kulturen oder Sprachen: die Folgen wären enorm, vielleicht sogar umwerfend (Brecht hat eine solche Ästhetik der Lust entworfen; von all seinen Vorschlägen vergißt man diesen am häufigsten). [Seite 87]


Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe — dieser Textur — verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge. Wenn wir Freude an Neologismen hätten, könnten wir die Texttheorie als eine Hyphologie definieren (hyphos ist das Gewebe und das Spinnetz). [Seite 94]

Roland Barthes

Aus: Die Lust am Text, Frankfurt am Main 1974 (Erstausgabe). Original: Le Plaisir du Texte (Editions du Seuil, 1973). Aus dem Französischen von Traugott König. Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages, Frankfurt am Main.

Laubacher Feuilleton 1.1992, S. 1

 
So, 12.10.2008 |  link | (2896) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Schrift und Sprache






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