Kurzschrift

Unseretwegen

Wir erinnern, wir sehnen uns! Lang schmeckt er noch nach, der 82er Grand Cru aus Saint-Emilion, 1995 in La Rochelle erstanden für ganze 92 Francs. Oder der Nachmittag am Atlantikhafen, den die fruits de mer immer mehr in den Abend weitmachten. Oder den kompletten Schubert-Liederabend, ohne Klassikradio-Interruptus, eine ganze Nacht anhaltend, bis gar Helios meinte, es sei genug, und seinen Wagen wieder aus der Garage schob? Oder die winterliche Dauernacht ohne Viagra, nur mit Rioja, dabei achtzehnmal Sibelius' (zugestandenermaßen nicht eben umfangreiches) Symphonien-Œuvre rauf und runter.

War das nicht eine zwar anstrengende, aber wunderbare Reiselust bei dieser stundenlangen Bildbefragung ohne didaktische Erklärungstafeleien? Wer wird sie uns nehmen, die Tage in den romanischen Klöstern, gotischen Kirchen und zeitgenössischen architektonischen Kathedralen ohne kunsthistorisierende Reiseführer und -innen? Und haben beim Lesen möglichst immer mehrerer Bücher gleichzeitig unsere linken und rechten Hirnhälften nicht etwa orgiastisch kopuliert und dabei Bilder in unsere Kopfwelt gebracht, die kein Regisseur je malen kann? Und waren sie nicht unglaublich befruchtend, die beiden französischen Herren, die zweieinhalb Stunden lang nichts anderes taten als nur miteinander sprechen, so, daß man tagelang darüber gesprochen hat?

«Das Sprechen führt den Zug der zeitlichen Dinge an wie ein tanzendes Kind mit einem Wimpel, auf dem nichts geschrieben steht, oder etwas, das es weder weiß noch versteht, oder mit Kinderschrift: Tod. Deshalb folgt die Kunst in dem Zug der zeitlichen Dinge weit hinten nach, mürrisch. Sie träumt von der Gegendemonstration.»

Wie bitte? Was will uns denn der, in diesem Fall ein gewisser Jochen Gerz (ein Künstler?), denn damit sagen? Wer soll denn das verstehen? Für solche Kopfgeburten haben wir keine Zeit (mehr). Abort.

Die Dame (geistige) Auseinandersetzung klemmt die Beine zusammen, und der potentielle Beschäler onaniert über den Börsenkursen. Et vice versa. Und sollte es zwischen FAZ und NZZ und SZ, zwischen Vernissage hier und Finissage dort doch zu dem kommen, was der sogenannte TV- und Print- und IT-Boulevard Abenteuer zu nennen sich nicht entblödet, focussiert sich der Quicki in den Ganglien.

Es hatte uns (gern geschmähte) Feuilletonisten zwischenzeitlich mal die Versuchung ereilt: Hühnerbrustmayonnaise an US-amerikanischen Weichteilen vom weiten Land, hin- und her- und hinuntergehastet im Nebenzimmer eines französischen Schnell-‹Restaurants› namens Quick. Nein, wir wollten nun doch wieder genießen, und sei es, uns selber. Die (Frucht-)Folge: Laubacher Feuilleton, Kurzschrift — später anderes und anderswo (keine Werbung!), und nun hier auf Archivfüßen gelandet —, um dem Ruch der schieren Froschfresserei ein wenig entgegenzuwirken und anzudeuten, daß wir auch auf Stimmen aus dem deutschsprachigen Heiden-Jenseits hören. — Auf daß wenigstens noch ein bißchen was übrigbleibe von dem, was die dereinst nächtelangen Ausschweifungen und Dauerkopulationen ausmachten, gaben wir unserem Kind, wie heutzutage obligatorisch in der Sehnsucht nach besagter guten alten Zeit, da unsere Kinder wieder Charlotte-Wilhelmine, Helene-Louise und Paul-Martin heißen und (endlich) begriffen haben, daß der Berliner Walzer nunmal rechtsrum getanzt wird, eben einen Namen mit auf den Weg, bei dem Reminiszenz unverfänglich mitschwingt.

Doch die Jennifer-Jaquelines mögen bitte unter sich bleiben. Ebenso diese ganzen neuen Thomasse, die drüben in der neuen Neuen Welt in ihrer von High-technical-Accessoirs befeuerten Energiesparlampenmentalität den großen Schein aufgleißen sehen und das lebendige Abstraktum nicht erkennen, das weitab des Horizonts ihres 1+0-Lichtkegelchens im Dunkeln zwar ruhig, aber dennoch und vor allem geistig nicht minder vital durchs Leben huscht. Also nicht noch ein Blögchen in der endlich elektrifizierten Großgemeinde, deren selbsternannten Amtsvorsteher über allen Tanjas und Anjas stehen. Wir mögen diese ganzen Unützereien, lesen nicht nur Bücher, sondern schreiben auch selber welche, nur eben keine zur Abschaffung derselben. Uns trötet keine EU-Verordnung ins Gehör, nach der die Eingänge dort hinein gesetzlich dezibellisch zu regeln seien. Die in unsere Ohren tröpfelnde Musik ist ohnehin handgeklöppelt. Wir sind uns unseres donquixotischen Daseins bewußt, wenn wir gegen das anschimpfen, was wir die Abschaffung des Lebens nennen, das sich in diesen erschreckenden Windmühlen darstellt, die jedes zarte mikrokosmische Lüftchen zerhacken. Wir halten es mit unserem Land- und Fahrensmann, der auch schonmal etwas rabiatere Methoden in Bewegung setzt gegen die Zerstörung unseres über Jahrhunderte gewachsenen Lebensraumes, alles wegen einer Reduktion auf das Billigste, die auf den kleinsten Nenner zu bringen ist, den es dafür gibt: Und es stinkt doch!

Uns (für die Autoren dürfen wir nicht sprechen), Romantiker nennen dürfen nur diejenigen, die über diese Zeit ein klein wenig mehr wissen, als daß da immer so ein einsamer Wanderer an einem Kreidefelsen in intakter Natur herumsteht und, wenn er denn wieder zuhause ist in sein holzbefeuertem klein Häuschen, beim ersten Treffen mit der Internet-Bekanntschaft zu dem kamingewärmten Glas Rotwein die Kerzlein aus reinem Bienenwachs gehören. Wir gehören zu den Interpreten der Romantik, die zu wissen meinen, daß diese sich eben nicht ausschließlich gegen die Aufklärung gewehrt hat. Wir halten es — noch einmal — mit Jochen Gerz, der im Gespräch meinte:

«Ich schätze die Hoffnungslosigkeit der Romantiker, die Politisiertheit der Romantiker. Ich halte Novalis für einen ausgesprochen scharfen Denker. Eine Arbeit wie die von Jean Paul, in der er alle Utensilien in seinem Zimmer notiert, ist beeindruckend. Es ist klar, daß da eine Panne im Programm ist. Der Künstler hat ‹nichts› mehr zu sagen. Die Kunst verläßt den Kontext, für den sie geschaffen war. Der Auftrag ist zu Ende, das Programm ist aus. [...] In der Romantik kommt es zur Panne des Auftrags, eigentlich ein schöner Moment, unglaublich scharf und ohne jede Entschuldigung. Scharfgestellt wird auf die Kunst, und was da steht, nackt und alleine, das ist eben die Kunst. Die Kunst ohne Dauer, Publikum, Auftrag. [...] Das ist auch politisch. Das entspricht einem fast französischen Begriff des Politisierten: Wo bin ich, was kann ich anfassen — bevor ich, beispielsweise in Vietnam bin mit meinem Kopf. Das allerwichtigste: daß sie eine relativ würdige, unexpressive Haltung eingehalten haben des totalen Fehlens von Anlaß zu Hoffnung. Die Romantiker waren total getrennt von ihrer Liebe, ihrer Sehnsucht, ihrem Verlangen nach Ursprung oder Zukunft, von ihrem eigenen Bewußtsein, von ihrem Programm, und ohne zu klagen und zu lamentieren und ohne sich zu verbohèmisieren haben sie das ausgehalten.»

Das ist mit L'art pour l'art gemeint! Und nichts anderes. Auch nix mit digitaler Bohème oder ähnlich. Das sind uns zwar keine bohèmischen Dörfer, aber doch auch nicht unsere. Ja, wir wissen es: Wir ticken nicht ganz richtig, sind weltfremd, fernab der Realität. Und da wir — im obigen Wortsinn — ein hoffnungsloser Fall sind, würden uns die meisten am liebsten gerne rausschmeißen. Da das so ohne weiteres nicht geht, gehen wir lieber selber.

Wir sind auf eine Insel im Grünen gestoßen, haben dabei Kartenmaterial zuhilfe genommen aus dem Gestern und den Sternen, die zwar auch ewig gestrig, aber ja eben auch die von heute sind. Wir führen eine mit elektronischer Füllfeder vollgeschriebene und zu schreibende Kladde, befüllen allenfalls einen Schuhkarton in Kleinkladdersdorf. Und aus dem spricht Per Kirkeby das Wort zum Alltag, in seinem Fister:

«Alles sieht schlimm aus, und es kann nur schlimmer werden. Zum Beispiel das immer größere Interesse der Menschen für Kunst [...]. Wenn es immer so war, daß der größte Teil des kunstinteressierten Publikums stets das Falsche wählt und auf das Billigste und Protzigste hereinfällt, dann wird diese Wirkung mit dem neuen Interesse und dem großen Andrang jedenfalls um ein Vielfaches verstärkt. Das Medienmonster ist im großen und ganzen das gleiche wie das Publikumsmonster: eine große Meute von sensationshungrigen Unterhaltungs-Vagabunden. Und plötzlich gibt es keine Normen mehr, sondern nur noch Wirkungen. [...] Man darf ja noch hoffen.»


dbm

aktualisiert aus Kurzschrift 1.1999; zuvor anderenorts veröffentlicht
 
Sa, 11.10.2008 |  link | (1966) | 1 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inwendiges


edition csc   (11.10.08, 07:07)   (link)  
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