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Alternativgalerie Laudatio auf Klaus Lea, Preisträger des Schwabinger Kunstpreises 1995, 14. September 1995, 19.30 Uhr in der Münchner Seidl-Villa Lieber Klaus Lea, meine Damen und Herren, ohne über den horror vacui eines Künstlers referieren zu wollen (was ja noch interessant sein könnte) oder über die Angst des Laudators vor dem leeren Blatt beziehungsweise Bildschirm — ich muß mit einer Binsenweisheit beginnen: Aller Anfang ist schwer. Eine solche Banalität als Entrée verlangt selbstverständlich nach einer Erläuterung, nach einer Erklärung. Um zu dem (nicht selbst verliehenen Prädikat) ‹Untergrund›-Künstler, ‹Untergrund›-Galerist zu gelangen, mußte Klaus Lea tatsächlich ganz unten anfangen und sehr schwer arbeiten — nämlich unter Tage, im Kohleabbau. Damals, Anfang bis Mitte der fünfziger Jahre, war er auch noch strebsam im Sinne einer Gesellschaftsschicht, in die er hineingeboren wurde (und deren Reglement — nicht deren Aufrichtigkeit! — er dann ablehnen sollte). Als die Prüfung, die aus dem bergmännischen Lehrling den Knappen machen sollte, lediglich die Note 2,3 erbrachte, wechselte er das Revier. Aber nicht etwa innerhalb des Kohlenpotts. Da er wegen einer Farben-Seh-Untauglichkeit nicht zur ‹Christlichen Seefahrt› durfte, ging er in die vom Großonkel geleitete bremische Seehafen-Spedition. Und als er dort im Büro regelmäßig über den Karteikästen einschlief (was ihm auch heute noch passiert — er mag einfach keine Büroarbeit), da war man gnädig und entließ ihn in den Hafen. Dort mußte er zwar die schweren Kaffee- und Gewürzsäcke schleppen, aber er fühlte sich wohl unter diesen Menschen, die Platt sprachen, ähnlich denen aus dem Dorf in der Nähe von Worpswede, wohin es die Nachkriegswirren die aus Stettin gekommene Familie verschlagen hatte. Siebzig Mark verdiente er seinerzeit im Monat. Das war auch damals, wir wissen es, wenig Geld. Ich habe es mal zurück- beziehungsweise durchgerechnet: Für siebzig Mark gab es damals rund siebzig bis hundert Biere; heute bekommt ein Lehrling, ein ‹Auszubildender› für seine Ausbildungsbeihilfe (in München!) gut zweihundert! Nun, Geld hatte auch der spätere Galerist Lea nie viel — und es steht auch nicht zu ‹befürchten›, daß er Zeit seines Lebens nochmal reich werden könnte. Zumal er ja immer wieder Kunden hat, wie ich einer war: 1977, im Jahr der Eröffnung der ‹Alternativ›-Galerie in der Blütenstraße 1 am 7. Juli, sah ich dort ein Bild von einem englischen Maler namens Carré, das mir sehr gefiel. Viel Geld hatte auch ich nicht. Später wollte ich es, mangels Masse, dem Galeristen wieder verkaufen. Aber der hatte, wie auch anders, kein Geld. Heute bin ich, dank einer wirtschaftlich recht günstigen Entwicklung, im Besitz einiger Kunstwerke. Und einige, ich gestehe es, habe ich mittlerweile auch wieder verkauft. So ist das nunmal. Dieses Bild werde ich jedoch mit Sicherheit nicht weitergeben. Dazu hängt zu viel Erinnerung dran. Für mich ist das sehr schöne Erinnerung an die siebziger Jahre, an die Zeit, zu der ich zwei, drei Jahre in München lebte, genauer: in der Maxvorstadt; die Zeit eben, in der ich Klaus Lea und andere in München ansässige Künstler aller möglichen Gattungen und Richtungen, andere Galeristen kennenlernte. Von ihnen, mit denen ich aufgrund meiner Tätigkeit als Journalist im kulturellen Bereich (oft) mit viel Freude zusammensaß, weiß ich sehr viel über die Münchner Zeit davor. Viele dieser Stätten und Orte, die alles andere als die so vielgerühmte beziehungsweise von vielen so geschätzte Münchner Gemütlichkeit kennzeichneten, habe ich, sozusagen in den Endphasen, noch miterleben, ja teilweise genießen dürfen. Ich nenne nur: das Nest auf, ja auf der Leopoldstraße. Da saßen sie, die Brüder Schamoni, genannt Brüder Schabloni, ein mittlerweile siebzigjähriger Erwin Echternacht, ein Vlado Kristl, ein auch nicht jünger gewordener und sich heute aufs Schumannsche Altenteil zurückgezogen habender Maximilian Seitz. Es gab das Domizil, früher in Alt-Schwabing und dann später ebenfalls in der Leopoldstraße. Es gehörte Ernst Knauff, der diese weltberühmte Jazz-Kneipe durch die Stadt München nicht ausreichend gewürdigt sah und sich deshalb aus dem Engagement zurückzog. Ihn oder Baldur Bockhoff nennt Klaus Lea, wenn er an diese Stadt erinnert, in die er sozusagen zurückgekehrt ist, weil «das Leben in München einfach eine Härte hatte». (Verlassen hatte er aus diesem Grund seinen «Himmel» Basel, unter dem viele Freundschaften entstanden waren. Dorthin gekommen war er nach seinem zweimaligen Durchwandern Frankreichs, mit dem er der Mentalität des deutschen «Erzfeindes» auf die Spur kommen wollte.) Das Interesse des Klaus Lea vor allem am Zeichnen, aber auch an der Literatur hatte zwar sehr früh eingesetzt. Doch ein Jugenderlebnis dürfte entscheidend dazu beigetragen haben (das ist jetzt reine Spekulation meinerseits), sich vor allem zur Schriftstellerei hingezogen zu fühlen. Und es hat, wie auch anders, in München stattgefunden. Mit anderen Lehrlingen zusammen (das hatte der Leiter des Heimes, in dem er zu dieser Zeit lebte, arrangiert) zusammen war er von Erich Kästner zu einer Vorstellung, zu Bier und Würstl in das Kabarett Die kleinen Fische eingeladen worden. Immer wieder wollte er sich bei Kästner dafür bedanken. Doch da es Lea nie gelingen wollte, mußte er immer wieder zurückkehren ins Leopold, dem Stammlokal von Erich Kästner. Dort eben beziehungsweise im Nest oder im Domizil nahm Klaus Leas bemerkenswerte Karriere ihren Anfang. Auch in der Akademie der Bildenden Künste hielt er sich viel, ach was: dauernd auf, beispielsweise bei Heiner Kirchner. Als der ihn fragte, warum er sich nicht einschreibe, war die lakonische Antwort: Ich bin doch sowieso hier, warum soll ich mich dann einschreiben. Mit einem großen Teil der Künstler, mit denen er später zusammenarbeiten würde, hat er in der Akademiestraße streiten gelernt. Zwei Jahre ist Klaus Lea mit der viel gepriesenen Rockgruppe Embryo herumgezogen, natürlich immer wieder hierher zurückkehrend. Und eines Tages gab Horst Manfred Petz Adloff, der Münchner Filmregisseur und -produzent ihm Geld für die Räume in der Blütenstraße 1. Sogar der gefürchtete Bezirksausschußvorsitzende der Maxvorstadt, Klaus Bäumler, erteilte der damaligen Alternativgalerie, dieser Zweckentfremdung, seinen Segen. Schließlich hatte Klaus Lea in der Aktion Maxvorstadt heftig und kräftig gewirkt, hatte mit um den Leopoldpark, wegen der Amalienpassage gekämpft. (Und auch um den Erhalt des Hauses für die Bevölkerung, in dem wir uns heute befinden, hat er gestritten.) Doch geht es heute nicht so sehr, nicht allein darum, den Galeristen, als der er große Verdienste erworben hat, zu ehren. Die Jury der Schwabinger Kunstpreise, für die ich hier spreche, hat sich für den ‹Allround›-Künstler Klaus Lea ausgesprochen. Deshalb will ich ein bißchen von dem aufzählen, was er in seiner Umtriebigkeit alles gemacht hat: Gemeinsam mit Uwe Lausen, diesem anderen Interdisziplinären, hat er vier Jahre lang die Zeitschrift MAMA herausgegeben. Er hatte regen literarischen Austausch mit Heroen der Beat Generation, mit William S. Bouroughs in den USA, mit Jeff Nuttall in England, Jean Jacques Lebell in Frankreich oder mit Simon Vinkenoog in den Niederlanden. Zusammengearbeitet mit dem Living Theatre hat Klaus Lea, hat Drehbücher (mit-)geschrieben, beispielsweise mit George Moorse, oder selbst gespielt – die Hauptrolle in Maran Gosovs Kurzfilm Nach Frankreich. Walter Höllerer hat in eingeladen nach Berlin ins Literarische Colloquium – verbunden mit einem Stipendium. Geschrieben hat er nicht nur für die Münchner Abendzeitung oder für den Bayrischen Rundfunk; zum Beispiel über ein Literatentreffen in der Londonder Royal Albert Hall, über die legendäre Musikgruppe Ammon Düül oder Weihnachtsgeschichten unter dem Titel Marias Sorgenbrecher. International bekannt wurde seine Erzählung Das deutsche Herz, eine Abhandlung über den ‹mörderischen› Sektenführer Charles Manson. Ach ja, und der Galerist. Nein. Der Veranstalter! Etwa dreihundert Veranstaltungen — das sind etwa sechzehn bis siebzehn pro Jahr! — gab es im zweiten Stock der Blütenstraße 1! Ich erinnere an den Bukowski-Marathon, an neun Stunden Video-Material. Alles ein bißchen schräg, daneben, aber immer mit intelligentem Humor. Und wenn beispielsweise ein Ingo Kümmel (wer die Kölner Kunstszene kennt, weiß um ihn), diese leider viel zu früh gestorbene Inkarnation des Fluxus', wenn Ingo in München war, dann konnte man ihn garantiert bei Klaus Lea treffen. Wie beinahe jeden, der sich aus der Etablierten-Szene heraushielt. Viele, die sich längst darin bewegen, gehen zu Klaus Lea — so geht beispielsweise ein Helmut Sturm mit seiner Akademie-Klasse zur Bildbetrachtung in Leas Galerie. Ach ja, die Expressiven, die Erruptiven, die mag Klaus Lea am liebsten. Doch so langsam nerven sie ihn, diese Bachmayers und Sturms und Fischers und Niggls und wie sie alle heißen. Seit achtzehn Jahren sehe er nur Bilder, hat er dieser Tage gestöhnt. Wieder mehr schreiben wolle er, also aufhören mit der Galerie, mit diesem Veranstaltungsbetrieb. Ach Klaus, seit ich Dich kenne, sagst Du das: Aufhören.
Frau Rodenstocks Brille Von Viren und Rädern «Der Wahnsinn hat einen Namen», war auf dem Telefax zu lesen. Dieser Ausruf war Ausdruck der Fassungslosigkeit, die den Absender überkommen war angesichts des kulturkritischen Strip-tease einer Gesellschaftsdame. «Inge Rodenstock studierte an den Akademien in Düsseldorf, Paris und München. Mit einer Kollektion von mehreren hundert Werken besitzt sie eine der bedeutendsten Kunstsammlungen Deutschlands.» So stand es in der Wirtschaftswoche. Überschrieben war damit eine der bemerkenswertesten Charakterisierungen einer Wirtschaftsfrauenvereinigungsvorsitzenden, die das Neue Zeitalter je hervorgebracht hatte. Studierte. Kollektion. Besitzt. Kunstsammlung. Bei solchen Qualifikationskriterien ist man berufen, nein, wird man gerufen — zu lehren, zu zeigen, wie's da drinnen aussieht: Herz aus Kunst. Und die Muse weinte bitt're Tränen. Alle beschwörenden Entgegnungen halfen nichts — es sei nichts besonderes, es sei die Schilderung des Status quo der künstlichen Welt, der Kunstwelt, dieser Fruchtblase eines Monstrums namens Neuer Liberalismus, diese Evolution der Revolution ergehe sich nunmal in einer etwas schlichteren Ausformung der Reflexion, diese von der Geldamme gesäugte, unvermögens zu Warenwerten gelangte Species erbreche fortwährend solchen Kunstbrei, der überdies in allen möglichen Blättern focusiert würde. Es fruchtete nichts — der Autor des Telefax wollte sich sofort über sie hermachen. Alles Einhaltgebieten half nichts. Er wollte sie niederringen, diese Walküre der Saatchi-Kultur. Sie sollte keine (Hirn-)Toten mehr nach Wallstreet-Walhall bringen, um sie dort bekränzen, beweihräuchern und im Gral versinken zu lassen. Mit großem Walhallali sollte dieser Pilotin der tieffliegenden Kunstfliegerei in die Luft geholfen werden. Seine Determinanten waren klar: Im tiefen Tal des drögen Geldvernichtens durch Kulturkonsum könne kein reiner Gedanke entstehen, also: ab in die Höhenluft, wo sich bekanntermaßen selbst minimale Leistung maximiert, auch geistige — er ist ein Prediger des Kognitiven: er glaubt an das Intellektuelle im Menschen. So will ich denn, bevor unser Fluglehrer abhebt ins Kultur-Nirwana, (an-)moderieren, Inge und den Rodenstock-Kreis qua Funktion des schon länger über den Esoterikern Kreisenden vor diesem Berserker des Verismus aasend auf den Arm nehmen, indem ich (ein wenig nur) apologistisch zu skizzieren versuche, was El Niño zum finalen Wiegenfest des letzten Jahrtausends dieser Welt auf den Gabentisch geblasen hat. Auch als schon etwas in die Tage gekommener Kultur-Kanal-Arbeiter muß ich wohlfrisierte Glatzköpfe mit modifiziertem 50er-Jahre-Wurmfortsatz um Mund und Kinn nicht in die ewige Kanalisation der TV- und Internetwelt wünschen. Denn sie surfen ja bereits mit genußvollem Getöse in deren Ausscheidungen, in Fluß gehalten durch laufende Schriftbänder, die im wesentlichen aus hieroglyphischen Zahlen bestehen. Es ist überdies ja hinlänglich bekannt, daß das Land zwar weit ist, die Sau sich jedoch am wohlsten dort fühlt, wo der Dreck zusammenläuft, sich konzentriert: im Schlammloch. Ein Nebengleis führt dabei in mich hinein, für das ich von unseren Freunden aus dem Wilden Westen vermutlich zu einer lebenslänglichen Hamburger-Injektion verurteilt werde: Nachgerade zu einem Interruptus meines seit Denkenkönnen anhaltenden Kaas-Lemaire-Maurane-Morato-Dämmercoitus genötigt, schalte ich das Fernsehgerät ein, um ein Portrait der (von mir sehr geschätzten) US-amerikanischen Sängerin Dawn Upshaw zu sehen beziehungsweise zu hören. Glaubte ich zunächst an ein mittelwestliches Intermezzo, so stellte sich bald heraus, daß dieses da gemalte Bild zur Gänze aus diesen faden Farben bestehen sollte: Anstatt die stimmliche und emotionale Strahlkraft dieser Frau zu illuminieren, zeigt, in einer unsäglichen Anbiederung an das, was man wohl für US-amerikanische Musik-Avantgarde hält, ein französischer Sender in Coproduktion mit dem bayerischen öffentlich-rechtlichen 45 Minuten hochtoupierte Folklore, überwiegend aus dem Lagerbestand eines US-amerikanerischen Versicherungsvertreters (nichts gegen Versicherungen!) namens Charles Ives. (Ist hier gar des peu à peu zum Americanix mutierenden Troubadix'-Le Fataliste Drang verwurzelt, zunehmend öfter eine dieser seltsamen, aus dem noch weiteren Westen stammenden Sportuniformmützen und mit dem Schild nach hinten aufsetzen zu müssen?) Mit dieser «Neuen Musik» aus der Innovativ-Welt glaubte man sich im Klassik-Radio-Reich, der Heimat jener Menschen, bei denen es (ganz neudeutsch) nur «Sinn macht», die nichts aufregender finden als (dann wieder eher altdeutsch) «vor Ort» zu sein, also jenen, die sich nie ins Zentrum, in den Ort begeben (vermutlich aus Angst, einfahren zu müssen in die Grube), demzufolge auch nie von den tatsächlichen Eruptionen umfaßt werden. Es sind die Menschen, deren «romantische» Gefühle im Geflacker des Kleingeistigen dahinglimmen und deshalb nicht im horizontfreien Licht des Tages auflodern können. Es sind die Menschen, bei denen schon in Spermien-Gestalt die Schere im Kopf klapperte, die bereits vor ihrer Zeugung Inkarnation waren: der Neigung zum geduckten Gang. In diesem Hades der gen Tumbheit fließenden Mittelmäßigkeit heißen die Sirenen Moderatoren, und deren serviler Reklamegesang hält den Ton einer permanent von James Galway, diesem «André Rieu des Blasinstruments» (Herbert Köhler), in Betrieb gehaltenen Affirmations-Dauerflöte (tempi passati), die nur eine (immergleiche) Note kennt: «First-Class-Music», «Klassik-Vision», «Bunte — das europäische People-Magazin», «Einmal täglich Gute-Laune-Klassik — und garantiert ohne Nebenwirkungen», «Das Wetter». (Bei den gebührenpflichtigen Rundfunkanstalten ist solcher Erbschleicherjargon glücklicherweise dann doch limitiert.) Die Oper brennt, rufen sich Taxifahrer in Frankfurt am Main über Funk zu, wenn die Vorstellung zuende ist, also im Foyer das Licht eingeschaltet wurde, und gemäßigte Fuhren zu erwarten sind. Denn das eigentliche Ereignis findet nach der Vorstellung statt. Einander sehen und gesehen werden und dann schön essen gehen. Zum Italiener. Im Hintergrund dirigiert der Musik-Adlige Neville Marriner sich durch die ergiebigen Altölvorkommen «des ganzen Klassik-Radio-Landes». Dort treffen wir sie dann wieder, unsere Magistras (die Magister sind noch nicht soweit — langsam, wie Jungs nunmal sind, befinden sie sich noch auf Arbeitssuche) der Kunstgeschichte, die später auch Mitglieder der Klassik-Radio-Gemeinde werden. Doch erst muß noch geheiratet und Mama geworden werden. Ja, richtig: jene, die ganze Lastkraftwagens (kurz: Lkws) voller Informationens (Infos) aus der Studienberatung schleppten, weil es sich als äußerst belastend erwies, eine Entscheidung zu treffen zwischen Banklehre mit anschließendem Studium der Betriebswirtschaft oder dem der Kunstgeschichte, letzteres sich jedoch als zukunftsträchtiger andeutete, da der Kunst das Geld immanent geworden ist (und andersrum) und wegen nur dem Geld viel weniger supertolle Events abgehen wie bei der Kunst und natürlich auch wegen, wie schon Inge Rodenstock in der Wirtschaftswoche geschrieben hat (und die muß es ja wissen): «Der Kunstmarkt boomt, die Preisentwicklung ist ähnlich wie nach dem Börsencrash 1987, als viele Anleger in Kunstwerke geflüchtet sind.» Ja, jene, die sich schwertun beim durchgehenden Lesen bzw. Erfassen von mehr als drei Seiten Geschichte der Kunst (es sei denn, sie hätten sie selbst verfaßt, und auch dabei ist's fraglich), die besser Schumacher studiert hätten, um zu lernen, welcher Schuh ihnen paßt, daß man sich nicht pompeux auf die monegassische, höchst kurvenreiche Hochgeschwindigkeitsstrecke begibt, sondern eher etwas tiefergelegt daherfährt. («Nichts gegen Rennfahrer!» würde der Kunsthistoriker Ivo Kranzfelder jetzt wieder ausrufen, so, wie er in Kurzschrift 2 bereits die Dermatologen verteidigt hat.) Richtig: diese Frauen in (Armani-) Uniform der Kunst-Heilsarmee mit ihrer Generalissima Inge (oder anderer Führer-Figurinen). Sie haben geschworen, diese nur abzulegen, um dem Herrn zu dienen. Meistens handelt es sich dabei um den aus der 31. Etage. Wenn's nicht klappt, darf es auch mal der aus der 12. sein. Und wenn sich letzteres als unumgänglich herausstellen sollte, bilden sie dann den Mittelbau unserer Kunst-Kampf-Truppe, werden gern gesehene Besucher jener Kunsthandlungen, deren Betreiber zuvor (schon) in Kosmetik gemacht haben. («Nichts gegen Dermatologen!»). Sie sind dann von Inge Rodenstocks «Kunstvirus» befallen. «Wer sich mit dem Kunstvirus infiziert hat, gibt ein Vermögen aus», läßt Frau Inge uns wissen. Wenigstens ein kleines (für die Kunstzwerge). Das man beispielsweise benötigte, um einer Galerie in Toronto Joseph Beuys 100 frontal Views von Arnaud Magg abzukaufen, das «trotz», wie uns sogar Inge Rodenstock verblüfft wissen läßt, «einer Auflage von drei» 65.000 Mark kostet. Also, gibt uns die Kunst-ist-Leben-Ratgeberin, nachdem sich ihr Erstaunen ein wenig gelegt hat, den Hinweis, «müssen wir uns auf Neuland begeben, dorthin, wo freche, respektlose, innovative Kunst angesagt ist. Neu sehen lernen ist gefragt.» Neu sehen lernen! Sehen. Hat sie geschrieben. Ja, aber nicht etwa profan wie Birgit Vanderbeke, deren Erzählerin in ihrem Buch Ich sehe was, was du nicht siehst unter provençalischem Himmel begonnen hatte, «Cézanne für Kinder» zu schreiben, «weil das Licht gegen Ende des Sommers so grau wurde, ganz durchsichtig leuchtend grau, daß ich Cézanne plötzlich besser verstand als früher» und der Gedanke an «van Gogh für Kinder» ihr Unbehagen bereitete, das jedoch «so undeutlich» war, «daß ich nicht weiter darüber nachdenken mochte — nicht, solange wir noch im Niemandsland lebten und uns jeden Tag erzählten, was wir sahen, und jeden Tag war es etwas Neues, und jeden Tag war es schön und wurde immer noch schöner von Tag zu Tag». Sehen lernen. Bei Frau Rodenstocks Sehschule drängt Herbert Achternbusch sich auf, jener malende Film-Theater-Mensch, bei dessen feixischem Gegrinse in der Süddeutschen Zeitung zu Dieter Dorns Maximilianstraßen-Über-Kreuzung ebenfalls Farbe ins Spiel kam: «Jedenfalls habe ich die Farbe Gelb auf den Kammerspielen eingeführt. Als ich für die Luise in Weg eine gelbe Perücke wollte und eine blonde bekam, deutete ich auf den gelben Abfalleimer. Ab da sollen die Farben nicht gar mehr so geschmäcklerisch gewesen sein [...].» Ja, jener Achternbusch, der in den 70er Jahren diese heilvolle Drohung ausstieß, die sich, weit über die Grenzen der Maximilianstraße, dort, «wo die vielen Möchtegern-Riefenstahls gehen», erfreulicherweise immer wieder erneuert: Dieses Land habe ihn kaputt gemacht, und jetzt bliebe er solange hier, bis man es ihm ansehe. Sehen. Ja — vielleicht «An-Sehen». Aber bloß nicht anschauen! In Frau Rodenstocks Sinne also möglicherweise so: «Kunstsammeln macht Arbeit, erfordert viel Information, viel Fleiß und sehr viel Gespür. Wer sich mit dem Kunstvirus infiziert hat, gibt ein Vermögen aus.» Und versteckt den Schimmel von Diter Rot-Dieter Roth im Plexiglasstall. Stallkunst also. Wildpferdchen anfüttern, in Kasachstan oder im schottischen Hochland oder im (zur Zeit überhaupt britischen) Neuland, solange, bis sie uns drauflassen, diese respektlosen, innovativen Künstler? Oder uns mit ihrem wilden, jungfräulichen Urin (der ja nicht nur in den Träumen von Alt-Herrenreitern nicht stinkt, sondern die dabei an Champagner denken sollen) beglücken, unsere irgendwann dann eben brit-artigen Künstler. Bis sie bei Frau Inge unter der Beglückungs-Tafel liegen. Ist Mister Miller-Horaz ob der Dauerstriegelei von Frau Rodenstock-Maecenas dann schlecht geworden? Oder ist er einfach nur erschöpft — der vielen Pressekonferenzen wegen oder weil er sich, wie Ivo Kranzfelder meint, «in einer anhaltenden Phase des Schaffensdurchfalls» befindet? Und haben die Glitzerkaskaden dieser geldadligen Höflingsmanufakturen die immerselben Genialischen so geblendet, daß sie abtauchen mußten in die solipsistische Dunkelheit, in die kein Quentchen Realitätsschimmer mehr vorzudringen vermag, in der Arkadia in Masturbation umbenannt wurde? Und benötigt die Dame Rodenstock gar eine noch stärkere Sehhilfe? Um sie zu sehen, diejenigen, die in den Kratern liegen, die diese Peanuts-Monokultur-Granaten der einst friedensbewegten und jetzt enorm jungdynamischen Fünfzig- bis Siebzigjährigen gerissen haben? Ein Recht auf ein gerüttelt Maß an Angewidertsein hat er, der seinerzeit ebenso in den Geist der 68er Gewehte, beim Anblick der Versammlung ehemaliger Revolutionäre, die das Mundwerk nur noch aufmachen, um Austern zu schlucken (nur nicht kauen, das widerwärtig-schlüpfrige Zeugs, es könnte ja nach 'was schmecken) und Prosecco (sic!) nachzukippen bzw. ihren Kopf zu nichts anderem mehr zu gebrauchen als den breitrandigen Alzheimer draufzusetzen — dieser am Stock gehenden Hoden und ihrer für die kapitalismus-buddhistische Kunsthungerhilfe Paco-Rabanne-Mysterientinnef sammelnden, ständig die Kassen der Kosmetikchirurgie liftenden, in die Tage gekommenen Avon-Beraterinnen. Und wieder auf der Périphérique: Wieviele aus dem 68er-Rodenstock-Kreis haben sich (beispielsweise) mit den Elementarteilchen von Michel Houllebecque wirklich auseinandergesetzt vulgo gelesen (und sie auch reflektiert), nachdem sie soviel darüber gelesen haben? Und nicht nur in den Biedermeier-Designer-Schrank gestellt. Wieviele haben den Kopf hingehalten, als der gesellschaftlich sichtlich angeschlagene Franzose seine Restenergie zusammennahm und damit jene Hiebe verteilte, die den genetischen Holocaust einforderten? Sie waren vermutlich alle viel zu sehr damit beschäftigt, in den Verlautbarungen der Kunstmarktseiten fündig zu werden — während drei Seiten weiter vorne ein paar Unentwegte (wenigstens) mit Substantiellem spekulierten. Oder war das einfach über (unter?) Dauerwerbesendungsniveau? Etwa, als ob man dort auf einmal komplette Symphonien gespielt hätte («Das ganze Werk», früh morgens um vier, weil die klassische Intelligenz immer wacht) — so ausufernd also wie eine 357 Seiten lange biochemische Versuchsanordnung. Da die Bibel das durchschnittliche Fassungsvermögen eines menschlichen Gehirns des ausgehenden 20. bzw. beginnenden 21. Jahrhunderts überfordert, haben kleinteiligere Formen der Lebenshilfe Spitzenplätze des (auch buch- und kunsthändlerischen) Daseins übernommen. Was zum Problem für die christlichen Großkirchen geworden ist, führt den weltlichen Sekten (in gar nicht so erstaunlichem Maße) ganze Heilsarmeen («Nichts gegen Dermatologen!») zu. Die zeitgenössischen Pilgerpfade führen in alle Richtungen des Kunsthimmels. Die Kunstkarawanen, Neumillenniumsströmen gleich, ziehen allerorten in die Kathedralen der Neuzeit, von deren Kanzeln aus unser aller neuer Säher, der Herr Saatchi, sein Lullaby predigen läßt. (Haben wir früher nicht mal von den Millionen Fliegen gesprochen, die nicht irren können?!) Denn und aber, wie Frau Rodenstock zum ausgehenden Jahrtausend richtig erkannte: «Noch ist der Kunstherbst nicht zu Ende, die nächsten Etappen sind Athen, Köln und natürlich New York, wo sich das Rad am schnellsten dreht.» Bei dem Speed merkt man dann tatsächlich nicht mehr, daß man eins ab hat. dbm Kurzschrift 3, Sommer 2000, S. 15–22
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