Klassentreffen

Telefax aus Montevideo

Liebe Pia,
vor knapp fünf Jahren habe ich Computer gelernt, wofür? Um hier in der «Dritten Weit» nicht als Antiquität herumzustolpern. Weniger leicht fällt es mir hier, angesichts der permanenten Stadtzerstörung meine nostalgische Trauer zu zähmen. Grimmig betrachte ich den anhaltenden Boom der Abbruchfirmen, wohltuend empfand ich einen dreimonatigen Bauarbeiterstreik, der Montevideo fast staubfrei machte. Ähnliches gilt für die Umweltzerstörung; da mag ich insbesondere in meinem ersten lateinamerikanischen Land, Paraguay, gar nicht mehr ins Inland reisen. Uruguay ist in dieser Hinsicht weniger problematisch, dafür erlebe ich das Nachtleben in Montevideo fast — nur wenn Besucher aus Übersee dazu drängen. Mich hat wahrscheinlich die deutsche Polizeistunde konditioniert; hier hingegen schläft man vor dem Ausgehn erst mal aus und kommt so nachts um zwei frischgebadet zum Festen. Promille übrigens sind kein Thema: Macht nichts, wie früher bei uns, fährt man oben etwas vorsichtiger nach Hause. Unterschiedslos wiederum ziehen auch in Montevideo die Hunde ihre Halter an ausziehbaren Leinen hinter sich her. Ein Schäufelchen hingegen führt Frauchen/Herrchen nicht mit. Unglaublich ist die Sonnensucht der Uruguayos, aber nackt oder auch nur oben ohne gibt es nicht. Wer nun meint, das sei katholisch, irrt, Kirchenglocken habe ich schon ewig nicht mehr gehört und auch die Stunde schlägt hier nicht vom göttlich an die weltliche Pflicht mahnenden Kirchturm. Ich bin Atheist, sagen mir viele Leute, und versöhnlich fügen sie hinzu: Gottseidank. Schön, unheimlich langhaarig und drahtig sind hier die jungen Kerls aus den unterprivilegierten Schichten, sagen wir Anstreicher, Müllmänner, im Inland die vielen Gauchos: In Deutschland findet Ihr so etwas noch in Haftanstalten, eventuell in Schlachthöfen oder untertage. Ich habe die Gauchos erwähnt. Neulich ist einer mit Walkman an mir vorbeigetrabt. Mögliche Fragen: Wo wird das Grundwasser wieder zutage treten, das die bald verbrauchten Batterien schließlich vergiften? Oder — mir würde mal ein Band mit Stille gefallen — was hat der Reiter gehört? Ich denke bei Gaucho immer an das liebevoll scharf geschliffene Messer, das ihm hinten schräg im Gürtel steckt: Gierig zoomen sich die Kameras heran, gleiten über den schwierigen Griff zu dem harten Metall, das leise den größten Teil seiner Kraft in der Scheide verwahrt. Fort von dem blanken Geheimnis ziehen die Abnäher der Hose des Gauchos den Zoom/Blick weiter.

Wehender Faltenstoff bedeckt den Mann, und die Hosenbeine enden locker zusammengebunden unten, kurz bevor die Stiefelschafte in die Sohlen münden. Die «Bombacha»-Pumphose sollen die Engländer hierher gebracht haben, nachdem sie auf einer Ladung Türkenuniformen sitzten geblieben waren. Ich nenne das Recycling und breche mir so den Weg zu einem Thema, an dem alle mitmischen: Müll. Auf rund 220.000.000 Menschen von Brasilien, Argentinien bis Chile, über Uruguay, Bolivien und Paraguay kommen lediglich vier städtische Müllplätze, die mehr als ungeordnete Müllkippen sind, Curitiba, Laprida, Oberá und Maldonado heißen diese Pilgerstätten für Umweltfreunde. Auf Anhieb finden läßt sich aber nur Curitiba: Zwei Mio. Einwohner. Außerdem sind dort, nebenbei bemerkt, auch die Busse attraktiv. Als Attraktion für Kinder vermisse ich ansonsten, übrigens auch in meinem alten Deutschland, Spielzeugbusse. LKW und Autos, Renn-, Feuer-, Polizei- und Gangsterwagen. Mondfahrzeuge, Batmancar, mit Batterie, Schwungantrieb und zum Überschlagen, alles da! Warum kein Bus? Das Schönste an den Deutschen sind halt ihre Autos, sage ich immer — welche Form, weicher Schwung — nur erklärt das nicht die fehlenden Spielbusse. Vielleicht doch: Man gibt sie den Kleinen nicht, weil sie hier wie dort Ärmlichkeit transportieren, real, im Image und umgekehrt in zirkulärer Verursachung. Jetzt wird's aber oberlehrerhaft ... Es muß die alte Klasse sein, die mich noch immer motiviert. 28 Jahre danach. Schade, daß das Treffen ohne mich stattfinden muß.

Alles Liebe und Gute
Dein Rainer (Willert)

Laubacher Feuilleton 15.1995, S. 16
 
Fr, 17.09.2010 |  link | (1670) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Anderenorts






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