Sport. Kunst. Geist.

Vom Musengipfel

Lange Zeit war der Sport in eine gesellschaftliche Randposition abgedrängt, nicht nur in der leibfeindlichen Welt des Mittelalters, sondern auch in der säkularisierten Neuzeit bis an die Schwelle zur Gegenwart. Körperkultur und geistige Exerzitien schienen einander auszuschließen. Die gegenseitige Verachtung der Repräsentanten beider Bereiche war ebenso total wie ihre Berührungsangst, der Shakespeare lesende Box-Weltmeister Gene Tunney genauso ein Kuriosum wie der Philosoph auf dem Fußballplatz, Ernst Bloch als Karl-May-Fan oder der frühe Bertold Brecht und George Grosz als Box-Enthusiasten. Noch hat kein neuer Pindar die Kaiser-Ode auf Franz Beckenbauer gedichtet. Und Juvenals frommer Wunsch an die Götter, sie möchten den Menschen doch, bitte, einen gesunden Geist in einem gesunden Körper verleihen, wurde bestenfalls als unerfüllbare, rückwärtsgewandte Utopie angesehen. Der Sportler hatte dumm, der Geistesmensch unsportlich zu sein, so wollte es das Klischee.

Ortega y Gassets Gespräche beim Golf waren erstens eine Ausnahme und zweitens auch von einer elitären Haltung geprägt. Daß die nicht richtig sein kann, dafür gibt es anschauliche Beweise — auch in meiner bayerischen Wahlheimat. Man braucht nur an den allzu früh verstorbenen Skispringer Hein Klopfer als Erbauer der Skiflugschanze oder an den Olympioniken Franz Vogler zu denken: beide nicht nur Ski-Kanonen, sondern auch hervorragende Architekten.

Winfried Sabais, einer der wenigen Intellektuellen unter den deutschen Oberbürgermeistern (in diesem Fall von von Darmstadt) der Nachkriegszeit, hat die übliche Haltung der Intellektuellen in eine bündige Formel gegossen, als er seiner Attacke auf die vermeintliche Überbewertung des Sports zu Lasten des Geistes die bitterböse Überschrift gab: «Walter von der Fußballwiese». Fritz Walter, Kapitän der bundesdeutschen Fußball-Weltmeister von 1954 mit der «Intelligenz in den Waden», so des Autors düstere Vision, hatte Herrn Walter von der Vogelweide mit der Kinne im Herzen aus dem Bewußtsein des Volkes der Dichter und Denker verdrängt.

Der große irische Dramatiker George Bernard Shaw hingegen nahm die Verehrung des Sport-Idols als Nachfolger des mythischen Helden in einer entglitterten Welt und seine im Vergleich zu der des Geistesheroen übermächtige Popularität mit Heiterkeit zur Kenntnis.

Journal Als Ende der zwanziger Jahre Richard Strauss in Brioni Urlaub machte, blieben Dichter und Komponist solange unbeachtet, bis sie vom Jack-Dempsey-Bezwinger Gene Tunney besucht wurden. Erst von diesem Augenblick an war es mit der Ruhe vorbei. Scharen von Photographen und Filmern umringten den Boxer, und nur weil sie gerade mit ihm zusammenstanden, wurden Shaw und Strauss, zu ihrem Amusement, gleich mitphotographiert. So erzählte es der Autor der Helden und der Heiligen Johanna dem Grafen Kessler in London.

Solche Gelassenheit auf der Basis von Sympathie und Respekt für die Leistung des Sportlers war im nachgriechischen Europa lange Zeit nicht selbstverständlich. Sie ist es heute noch nicht, obwohl Benjamin Henrichs im Zeit-Feuilleton nicht nur Theaterstars wie Peter Zadek und Frank Casdorf verrissen hat, sondern auch Jupp Derwall und Berti Vogts. Ludwig Harig ließ Günter Netzer «aus der Tiefe des Raumes» kommen, Walter Jens analysierte messerscharf nicht nur die Anpassungsmentalität unserer Fußball-Weltmeister, und Wolf Wondratschek ließ sich gern mit Henry Maske photographieren, ehe er sich mit ihm verkrachte. Überdies konnte das gesundheits- und geselligkeitsfördernde Golfspiel inzwischen zum Statussymbol der alt- und neureichen gehobenen Stände avancieren, nachdem der Skilauf und selbst das Tennis trotz Boris Becker und Michael Stich infolge zunehmender Massenhaftigkeit und dementsprechend mangelhafter Exclusivität diese Funktion inzwischen verloren haben. Doch immer noch tut sich der Intellektuelle, vor allem in Deutschland, viel darauf zugute, sportlich eine Niete zu sein und das Fernsehgerät abzuschalten, wenn Steffi Graf gegen Aranxa Sanchez oder Mary Pierce verliert oder wenn der neue Tennis-Chef Boris Becker seine sportlichen Auf- und Abschwünge praktizierte.

Andererseits gibt es natürlich auch den Spitzensportler, der stolz darauf ist, kein Buch zu lesen (es sei denn eines von Konsalik), nicht ins Theater, ins Museum oder ins Konzert zu gehen (es sei denn, Guildo Horn gibt sich die Ehre) und der umgehend den Fernseher ausschaltet, wenn die Gefahr droht, daß er kulturell oder politisch etwas lernen könnte. Ausnahmen wie Felix Magath, der malende Schalke-Spieler Yves Eigenrauch oder die an Kunst interessierten Günter Netzer oder Toni Schumacher, den Andy Warhol portraitierte, bestätigen nur die Regel kultureller Enthaltsamkeit.

Auch war es nicht gerade ermutigend zu sehen, wie vor einigen Jahren deutschen Spitzensportlern wie Eberhard Gienger oder Ulrike Nasse-Mayfahrt und ihren Beratern kein anderer Bildhauer als Arno Breker, der Michelangelo des Dritten Reiches, einfiel, als es darum ging, ihre jugendlich-athletischen Körper der Nachwelt zu überliefern.

Attisch Wohin die Zeiten, da im klassischen und im vorklassischen Griechenland die besten unter den bildenden Künstlern gerade gut genug waren, um sich im unmittelbaren Kontakt von der vollendeten Leiblichkeit der Ringer, Faustkämpfer, Diskuswerfer und Wagenlenker — Ski-Asse gab es damals noch nicht, da auf den Bergen die Götter wohnten — zu unvergleichlichen Vasenbildern und Skulpturen inspirieren zu lassen, die Zeiten, da Pindar die Olympiasieger besang und selbst der listenreiche Odysseus — schlag nach bei Homer! — sich die höhnische Frage gefallen lassen mußte: «Du treibst keinen Sport? Du bist wohl ein Kaufmann?»

Immerhin deutet sich nach jahrhundertelanger Entfremdung eine Wende an, nicht nur im wenig traditionsbelasteten Amerika, sondern auch im alten Europa. Jenseits des Atlantik war es schon früh nichts Besonderes, daß Schriftsteller wie Ernest Hemingway und Jack London Sportreportagen schrieben. Jack Londons rassistische Polemik gegen den schwarzen Boxweltmeister («Wer schlägt ihm das goldene Grinsen aus dem Gesicht?») brachte es sogar zu trauriger Berühmtheit. Der Maler George Bellows sah die Boxkämpfe zwischen Schwarzen und Weißen als Exempel des Kampfes zwischen Rassismus und verzweifelter Auflehnung. Auch in Frankreich waren die Intellektuellen und die Dichter nicht so snobistisch gegenüber dem Sport wie lange Zeit bei uns. Sie erkannten schon früh die gesellschaftlich Bedeutung, ja die soziale Sprengkraft des Sports als Massenbewegung. Toulouse-Lautrec malte und zeichnete nicht nur seine berühmten Reiterbilder, er entwarf auch Plakate für Radrennen. Vlaminck war selbst Radrennfahrer, Ozenfant fuhr Autorennen, Braque hat sich als Boxer versucht, Jean Cocteau war der Freund des Box-Weltmeisters Al ‹Panama› Brown. Bei Jean Tinguely konnte ich den Rennwagen des auf dem Hockenheim-Ring tödlich verunglückten Jim Clarke bewundern, den der Künstler in seinem Haus in Fribourg wie eine Reliquie aufbewahrte. Selbst ein so elitärer Schriftsteller wie Henri de Montherlant wich dem Thema nicht aus und war fasziniert von der Schönheit sportlich trainierter Körper und ihrer rhythmisch koordinierten Bewegung — auch in seinem Privatleben. Alfred Jarry, der proto-surrealistische Autor des Roi Ubu, beschrieb um die Jahrhundertwende in einem blasphemischen Text die Passion Christi von der Geißelung bis zur Himmelfahrt als «Auffahrtsrennen», das Jesus als «Flugzeugpilot» beendete. Der früh verstorbene Philosoph Roland Barthes interpretierte die Tour de France als Heldenepos unserer Zeit in der richtigen Erkenntnis, daß auch eine säkularisierte Welt ihre Mythen braucht und daß der sportliche Wettkampf mit seinen Aufschwüngen und seinen Tragödien das verkürzte Symbol des Lebens- und Überlebenskampfes ist.

Unter solchen Aspekten ist es geradezu als Glücksumstand zu werten, daß nun endlich auch in unseren Landen Bert Brecht und seine frühe kritische Liebe zum Sport («Sport fängt erst an, Spaß zu machen, wenn er aufhört gesund zu sein.») literarische Nachfolge findet; daß Schriftsteller, Essayisten und Wissenschaftler — vom Pionier Rudolf Hagelstange über Ror Wolf, Walter Jens, Wolf Wondratschek und Ludwig Harig bis zum pommerschen Grafen Christian von Krockow — sich dem Thema Sport immer mehr zuzuwenden. Die Maler und Bildhauer der Moderne unter Einschluß ihrer Ahnherrn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren den Schriftstellern auf dem Wege zum Sport immer um einige Längen voraus, und als Gruppe sind sie es, so darf man wohl sagen, noch heute.

Das gilt auch für die Negativseite. Die kriminelle Entartung in den Ersatzkriegen Fanatisierter, die der Verhaltensforscher Konrad Lorenz noch nicht in der heutigen brutalisierten Form kannte, als er — im Kern durchaus richtig — dem Sport jenseits aller ‹völkerverbindenden› Phrasen die Funktion zuschrieb, «sozietätsschädigende Wirkungen der Aggression» zu kanalisieren, muß man, so traurig es ist, den Krawall in den Rahmen solchen Verständnisses einbeziehen.

Die sportlichen Rituale, ihre Entwicklung und ihre Degenerierung sind Spiegelung sozialer Prozesse; und einer Gesellschaft, die darüber die Nase rümpft, muß man dringend zur Selbstkritik raten. Die Verächtlichmachung der Fairneß, die Verteufelung des Gegners, die kalte Beziehungslosigkeit vieler Sportler untereinander, die Verwandlung eines sporttreibenden Freundeskreises in eine Interessengemeinschaft (in der man sich mit der Forderung an Fußballmannschaften, «Elf Freunde müßt ihr sein!», nur noch lächerlich machen kann), die steigenden Gagen für durchaus nicht immer erstklassige Leistungen, das ‹hire and fire› im sportlichen Menschenhandel, die versuchte Auslöschung der Individualität («Der Star ist die Mannschaft»), die Unterdrückung der Meinungsfreiheit wie zum Beispiel im UKAS der FIS, den die alpinen Rennläufer nach dem schrecklichen Tod ihrer österreichischen Kollegin Meier auf der Streif unterschreiben mußten, die eines Howard Hughes oder Bill Gates' würdige Überzeugung, daß nicht nur alles, sondern auch alle käuflich seien, mitsamt dem anschließenden grenzenlosen Erstaunen naiver ‹Experten› über das schlichte Faktum, daß es nun auch im Sport kaum noch Persönlichkeiten und — zum Beispiel im Fußball — kaum noch kreative ‹Spielgestalter› mehr gebe: Das alles hat seine nahezu spiegelbildliche Entsprechung in der politischen, sozialen und ökonomischen Wirklichkeit unseres gesellschaftlichen Lebens, wo der ‹Macher› gegenüber dem Visionär dominiert. Und es ist mehr als verständlich, daß man die Mechanismen der Fußball-Bundesliga, so, wie sie sich heute präsentiert, als Karikatur des Spätkapitalismus mit seinem pseudo-pragmatischen, in Wahrheit irrationellen, im Leeren kreisenden Aktionismus versteht, und es ist schon mehr als bemerkenswert, daß einer der ideenreichsten Regisseure der letzten Jahrzehnte wie Franz Beckenbauer, dessen Einfälle auf dem Spielfeld freilich oft sehr viel besser waren als seine heutigen Blitzkommentare, diese Entwicklung ausdrücklich propagiert.

Während man mit der Aufreihung von moderner Poesie und Prosa zum Thema Sport bei der Einrichtung einer Bibliothek, trotz Cocteau, Barthes, Jens, Harig und Brecht kaum in Raumnot geriete, ließe sich inzwischen aus hochkarätigen Sportbildern und -bildwerken unserer Zeit leicht ein opulentes Museum einrichten. Wenn diese erstaunliche Vielfalt trotz mehrfacher Anläufe noch immer nicht ins allgemeine Bewußtsein gedrungen ist, so liegt das an der Isolation der gesellschaftlichen Bereiche voneinander. Welchen Sportfan zieht es schon ins Museum, und wieviele Museumsbesucher sieht man im Sportstadion wieder? Die Einbeziehung von Boxstars wie Henry Maske in eine internationale Kunstausstellung, wie sie Jan Hoet auf der vorletzten documenta realisierte, ist bis heute der Ausnahmefall.

Hinzu kommt, daß jahrzehntelang, nicht zuletzt unter dem Einfluß der dominierenden abstrakten Kunst, die Form gegenüber dem Inhalt auch bei der Bildbetrachtung die absolute Priorität hatte. Um es an einem Beispiel zu belegen: Man sah ein Bild von Nicolas de Staël und bewunderte die faszinierende Dynamik pastos aufgetragener Farbfelder, ohne sich lange dabei aufzuhalten, daß es nicht zufällig «Footballeurs» waren, die der Künstler gemalt hat und daß die Dynamik des Bildes nichts anderes ist als die künstlerische Transformation des sportlichen Kampfes.

Renoir Obwohl der moderne Sport, wie wir ihn kennen, in seinen Anfängen — ob Polo, ‹Lawn Tennis› oder Pferderennen — in aktiver Teilnahme und passiver Beteiligung eine ‹aristokratische› Beschäftigung für die besseren Stände war (noch der weltfremde Amateurbegriff des Multi-Millionärs und langjahrigen Vorsitzenden des Olympischen Komitees Avery Brundage hatte darin seinen Ursprung), haben die Künstler doch schon früh auch die kleinbürgerliche bis proletarische Komponente, durch die allein der Sport zur Massenbewegung werden konnte, in ihre Bildwelt mitaufgenommen. Neben den eleganten Reiterbildern des Marquis de Toulouse-Lautrec und Edgar Degas' Rennbahnszenarien aus dem mondänen Longchamps malte schließlich auch Renoir das Frühstück der Ruderer: in seiner malerischen Pracht das weltliche Gegenstück zu Veroneses Hochzeit zu Kana.

Ähnliches gilt für die Bilder des großen Franzosen Robert Delaunay. Bei ihm ist der Sport nicht Ersatzkrieg (oder Kriegs-Ersatz), sondern in seinen leuchtenden Farben wird er wieder Agon, athletischer, aber friedlicher Wettkampf zwischen Läufern, Ballonfahrern oder Rugbyspielern, obwohl die ja in der Regel keine zartbesaiteten Naturen sind. Bei Delaunay gehört der Sport noch zur Sonntags- und nicht zur Arbeitswelt. (Bei ihm finden die Spiele nicht mittwochs statt.) Vergleichsweise gilt das auch für Fernand Légers Darstellungen echter ‹Amateure›, für seine Badenden und seine Radfahrer, während bei seinen Akrobaten die Arbeit zum Spiel wird im Olymp der Proletarier, jenem utopischen Paradies der einfachen Leute, das noch immer verschlossen ist.

Es bedarf keiner Frage, daß die Befreiung von den Dogmen sittenstrenger Morallehren, die im wörtlichen wie übertragenen Sinne die ‹Bewegungsfreiheit› radikal einschränkten und die Leiblichkeit des Menschen diskriminierten, dem Sport ebenso mitzuverdanken ist wie der fortschreitenden Liberalisierung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Der Viktorianismus, der die Prüderie und die Körperfeindlichkeit in der westlichen Welt jenseits von Mao und Mohammed zum letzten Mal zum gesellschaftlichen Prinzip erheben konnte, wurde immer mehr in die Defensive gedrängt, aber erst in unseren Tagen zur Aufgabe gezwungen, auch wenn das Newt Gingrich und seinen Neo-Puritanern überhaupt nicht gefallen wird. Mit Askese und Keuschheitsgelübden selbst bei Ruderern, Turnern und Langstreckenläufern (von den Boxern zu schweigen) ist es vorbei. Die sexuelle Revolution hat auch die letzten Reservate eines schizophrenen Sportverständnisses erobert, das einerseits die Freude am eigenen Körper, die freie Bewegung kaum bekleideter Menschen in frischer Luft zum Ideal erhob, andererseits aber nicht nur die Frauen von dieser gesunden Betätigung zunächst fernzuhalten versuchte, sondern auch die eigenen Errungenschaften durch Moralvorschriften gefährdete, die allenfalls für orientalische Säulenheilige geeignet gewesen wären.

Nun dürfen endlich auch Frauen Fußball spielen (und wenn man an manch erbärmliche Vorstellung der Herren-Nationalmannschaft denkt, könnte man fragen, ob nicht die eine oder andere Dame eine erhebliche Verstärkung gewesen wäre); sie dürfen boxen und sich ringkämpfend im Schlamm wälzen. Wem so etwas gefällt, ist eine andere Frage. Nur der internationale Schwimmverband, der seinen Wettkampf-Schwimmerinnen aus Gründen der «Schicklichkeit» noch immer den Zweiteiler verbietet, ist der letzte Tugendwächter auf verlorenem Posten. (Nun ist zu hoffen, daß diese Befreiung nicht durch anabolische Mastkuren, die schöne Menschen zu geschlechtslosen Ungetümen deformierte, deren Körper man eigentlich wieder verstecken müßte, wieder gefährdet wird.)

Bei Joseph Beuys wurde — im Gegensatz zu Regina Halmich — das Boxen zum demonstrativen Schaukampf, zum politischen Gleichnis einer action directe, aber nicht einer militanten, sondern zu einer domestizierten, in der es keinen K. O. gibt, sondern nur einen Punktsieg. Die linke Gerade des Meisters sollte im Kampf gegen seinen Schüler Abraham David Christian nichts anderes als den Weg weisen zur «direkten Demokratie».

Es führt kein Weg zurück ins antike Griechenland. Athen ist auch nicht mehr, was es einmal war, und die Olympischen Spiele der Neuzeit mit dem traurigen Höhepunkt der Coca Cola-Show in Atlanta als kommerzialisierte Massenveranstaltung mit politsch-ideologischem Hintergrund (zum Glück wenigstens teilweise korrigiert in Barcelona) sind es erst recht nicht.

Aber eines darf man immerhin konstatieren: Die jahrhundertelange, wenn nicht jahrtausendelange Entfremdung zwischen Körper und Geist, Kunst und Sport ist längst nicht mehr so extrem, wie sie es bis in unsere Zeit hinein einmal war. Gene Tuney hat es nach dem Ende seiner Boxer-Laufbahn zum Gouverneur gebracht, Professor Loogen, vordem Mittelfeldspieler bei Fortuna Düsseldorf, wirkte als Arzt mit an der Entwicklung der Herz-Lungen-Maschine, der Handball-Nationalspieler Konrad Porzner und der Weitspringer Manfred Steinbach wurden Staatssekretäre, Der Fußball-Nationaltorwart Fritz Herkenrath Hochschulprofessor wie das ehemalige 400-Meter-As Wilfried Kindermann. Und die Fußball-Legende Pelé brachte es, wie man weiß, sogar zum Minister.

Die Reihe ließe sich fortsetzen. Demgegenüber stehen Künstler, die es zu beachtlichen sportlichen Leistungen gebracht haben: Yves Klein als Judoka, Eduardo Chillida als hochkarätiger Fußballspieler. Nordrhein-Westfalens ehemaliger Ministerpräsident, Franz Meyers, der einmal — mit einer wunderschönen Freudschen Fehlleistung — den Großen Kunstpreis seines Landes für Malerei an «Professor Fritz Walter» statt an Fritz Winter verleihen wollte, hat sich als Fußballspieler bei Borussia Mönchengladbach hervorgetan. Markus Lüpertz war vorübergehend in seine Spuren getreten. Jörg Immendorff hat, wie er, Box-Plakate entworfen, und Konrad Klapheck kann nicht nur auf eine jugendliche Boxpraxis verweisen, sondern auch auf eine exzellent archivierte Sammlung einschlägiger Druckwerke (The Ring) und Filme.

Auch nicht allen Museumsleuten ist die Sportpraxis fremd. Klaus Honnef hat Sportberichte geschrieben, Edy de Wilde und Pontus Hulten kennen den Boxring sogar von innen. Und der schlimmste Verriß, den ich mir selbst einhandelte, kam von Erich Steingräber, ehemals Chef der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, den ich mit einem kritischen Aufsatz in der Zeit erzürnt hatte: Was soll den wohl ein ehemaliger Fußballtorwart und Box-Sparringspartner von Kunst verstehen? So ungefähr lautete das vernichtende Urteil. (Später haben wir einander im neutralen Venedig den intellektuellen Catch-as-catch-can bei einer fröhlichen Feier vergeben.)

Auch die negativen Erscheinungen des Sports: Don King, der Boxmanager mit den elektrischen Haaren, oder der Ohrenbeißer Mike Tyson, der brutale, nicht auf Sieg, sondern auf Vernichtung des Gegners bedachte Kampf stumpfsinniger Erdenklöße, die Zerstörung der Individualität einfältig liebenswerter Sportler durch gewissenlose Ausbeuter (wie im Fall des Fußballspielers Sean Dundee etwa) werden von den Künstlern nicht verdrängt oder verschwiegen. Max Beckmanns Rugbyspieler sind dafür ein prominentes Beispiel. Amerikanische Künstler oder auch der spanische Box-Fan Eduardo Arroyo (als Maler und Schriftsteller) führen in schonungsloser Aufrichtigkeit auch beklemmende Negativ-Beispiele menschlicher Brutalität im sportlichen Bereich und deren schlimme Folgen eindringlich vor Augen, während ein Idol wie Max Schmeling italienische, französische und deutsche Bildhauer und Maler (von Ernesto de Fiori bis zu Renée Sintenis und George Grosz) dazu animierte, den Sportler in einem durchaus antiken Sinn als «Bildhauer seiner selbst», das heißt seines eigenen — vom Kopf kontrollierten — Körpers darzustellen. So wird dem «Genie» des Künstlers, wie Gilbert Lascault formulierte, die «Klasse» des Sportlers als gleichwertige Kategorie an die Seite gestellt.

Der Graben zwischen Sport und Kunst, Sport und Geist ist noch längst nicht geschlossen, die Integration beider Bereiche noch immer ein frommer Wunsch. Aber wie bei der allmählichen Reduktion der Entfremdung zwischen Publikum und Künstler seit Beginn des 19. Jahrhunderts lassen sich doch kontinuierliche Fortschritte feststellen. So hat man — am Rande vermerkt — in Oberstdorf (das übrigens nach dem krieg ein hochqualifiziertes, vielfältiges kulturelles Leben zu bieten hatte), inzwischen akzeptiert, daß Musiksommer und Skiflugwoche, ‹Skidorf› und ‹Kulturdorf› zum integrierenden Programm eines attraktiven Kurortes gehören. Das konkurrierende Garmisch-Partenkirchen hat mit der Realisierung einer Kirkeby-Skulptur auf der Zugspitze ein weiteres, bemerkenswertes Zeichen gesetzt. Und im Fernsehen hat man zwar viele wichtige Kultursendungen auf die Zeit kurz vor oder nach Mitternacht verlegt, womit sich leicht feststellen läßt, es habe ja kaum jemand zugeschaut, aber immerhin gibt es ja arte, und in einigen dritten Programmen waren Carlo Thränhardt und der Basketball-Meistercoach Dirk Bauermann in Gesellschaft von Markus Lüpertz, dem zweimaligen documenta-Chef Manfred Schneckenburger und mir zu sehen. — Wir heißen euch hoffen.

Negative Erscheinungen auf beiden Seiten — ob Kulturrummel oder überbordende Kommerzialisierung des Sports — sind kein Alibi für Verweigerung. Kriege haben auch in der Antike weder Sophokles noch Olympiasieger im Ringen oder im Wagenrennen verhindert, und über Brutalität, Geldgier und Hochmut der ‹Stars› haben sich die ‹Alten Griechen› fast schon genau so ärgern müssen wie wir. Jedenfalls dichtete Pindar bei sein olympischen Siegesgesängen den Heroen von damals ins Stammbuch:

«Wem gesunder Reichtum zufloß
Und Besitztum Fülle häufte
Und Ruhmnamen drein erwarb
Wünsche nicht, ein Gott zu sein.»

Ob's geholfen hat, wissen wir nicht.

Karl Ruhrberg

Kurzschrift 2.1999, S. 45–55; bei der Urfassung dieses Textes handelt es sich um einen Vortrag, den der Autor für uns überarbeitet hat.
 
Mo, 14.06.2010 |  link | (2640) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Sportliches






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