Erinnert das...?

Philosophisch fabelt's, daß alles, was dem Geist so vorschwebt, ein Wiedererinnern vorgeburtlich geblickter Ideen ist (Plato), tragödisch gemünzt werden dadurch Schlüsselstellen des Erkennens im Drama heraufbeschworen (Aristoteles): familiäres Wiedererkennen, Happening, Ödipus erinnert sich. Rhetorisch taucht Erinnern in zweierlei Funktion auf. Als admonitio — jemand soll sich an etwas oder einer Sache erinnern, um zur ethischen Umkehr zu gelangen («ich erinnere euch aber, lieben brüder, des evangelii», 1. Kor. 4, 17) — und im Sinne der memoria, des wiederholenden Bewußtseins. Daraus macht Freud eine archäologische Tiefenhermeneutik, Patienten mit der Nase oder dem Genital auf Erinnerungen im Wunderblock der Seele stoßend, diese Wachsplatte, in die halbleserlich Spuren geprägt sind. Man erinnert sich gründelnd. Man erinnert sich an Alltagstriviales und -quadriviales, es fällt einem eben ein, man erinnert sich jemandes, etwas ist einem gar erinnerlich — nun aber soll es um eine Wendung gehen, die zwar vereinzelt schon im 19. Jahrhundert auftaucht, aber erst in den letzten Jahren so richtig an Tempo gewonnen hat: erinnern ohne persönlichen Akkusativ: eine Sache, einen Inhalt, kurzum: etwas erinnern.

Der direkte Zugriff, den die englische Sprache mit dem häufigen Gebrauch des Akkusativ nach Verben des öfteren beweist, dort nicht ohne trockenen Charme von Oxford und Cambridge, wird hier zu einer ausgepichten Lehnwendung (von «to remember sth.»), zum bald institutionalisierten Anglizismus. Verknappung angedeutet, Präzision suggeriert, kein Zaudern zugelassen, man spart 6 (in Worten: sechs) Buchstaben im Vergleich zum Dativ mich an oder dem Genitiv dessen, seiner oder ihrer, abgesehen vom Inhalt, der eben zupackenden Wesens ist, den Sprecher als vom Schlage eines ausgebufften Managers darbietet — solche Atmosphäre verbreitet ich erinnere etwas. Und wird damit zu einem Chamäleon der Gegenwartssprache: dem Frühstücksdirektorendeutsch, das mit dem «Ja gut, ...» verschwitzt interviewter Fußballprofis beginnt, einer phatischen Phrase zum (gedanklichen) Luftholen, die ineins alles dementiert und kommentiert, und etwa endet bei «ausgelasteten Kapazitäten, die durch nichts mehr zu überbieten sind» [sic]. Darf in solcher Gegenwart die Kunst womöglich noch heiter sein und abgehetzten Yuppies nette Zerstreuung bieten, müssen demgegenüber die Strömungsverhältnisse der Alltagssprache reibungslos funktionieren.

Man freut sich schon, in der Ära postmodernen Wissens (mit geringsten Halbwertzeiten von Erinnerungen) überhaupt auf gelegentliche Erinnerungen zu stoßen, und sei es mit Akkusativ. Und doch wird die Alzheimerisierung von ausgewachsenen ehemaligen Bundeskanzlern nicht verhindert, die — Blackout! tschulligung! — nicht mehr so genau erinnern, wer welcher Partei wann was gespendet hat; ebenso verkürzt sich die Halbwertzeit der Informationen im Medientaumel zwischen Jugoslawien, Rostock überall, Lottozahlen und Steffi Graf. Etwas erinnern tröstet über so manchen Gedächtnisausfall hinweg, ist eine Allmachtsphantasie, die aber den Sprecher und den Zuhörer darüber täuscht.

Anglisierte Wissenschaftssprache der 70er Jahre macht's möglich, vom brainstorming, es hirnstürmt so frei flottierend und doch so gruppendynamisch ertragreich, über workshop, Kunst ist machbar, bis zu kaum zählbaren Lehnwendungen, die mehr oder weniger Sinn machen (make sense) und allesamt Verkünder mächtiger Aktionen von toughen trendies der Gegenwärtigstsprache sind. Meditativ-melancholisch nimmt sich dagegen noch das Unterfangen Prousts aus, der sich an die verlorene Zeit erinnern will, dessen Helden beim Eintauchen eines Madeleine-Kekses in Lindenblütentee eine Kindheitsszene aufleuchtet, die das Epiphanische, Gesichthafte, Unfreiwillige einer Entdeckungsfahrt hat. Nichts wird da erinnert, sondern etwas taucht auf, wird offenbar, in einem Vorgang, der selbst so beeindruckend ist wie das, an was sich da erinnert wird.

Nein, keine Oberlehrerklage gegen Sprachverfall, auch nichts gegen die Durchlässigkeit einer Sprache gegenüber einer anderen und umgekehrt, diesen interessantesten Vorgang von produktiver Deformation. Aber ein kleines Plädoyer für das Umständliche, das Umwegige der Präposition: zu retten ist hier nicht nur der Genitiv des Sich-einer-Sache-Erinnerns, sondern auch der Dativ des reflexivischen «sich an etwas erinnern», die sich imprägnieren gegen die ökonomisierenden Übergriffe des Akkusativ-Objekts. Sonst wird's am Ende noch persönlich, mit einer hinterhältigen Art des Andenkens: man erinnert jemanden ...

Ralph Köhnen


Laubacher Feuilleton 4.1992, S. 1
 
Mi, 24.06.2009 |  link | (2163) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Schrift und Sprache






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