Madame Bovary

In der Verfilmung von Bukowskis Roman Das Leben und Sterben im Uncle-Sam-Hotel steht Ben Gazzara auf der Bühne und sagt: Alles, was man tut, muß mit Stil geschehen. Auch das Öffnen einer Sardinenbüchse. Stil unterscheidet den Menschen schließlich vom Tier. Ein Tiger hat den Gang eines Tigers, er kann nicht gehen wie ein Elephant. Nur Menschen können gehen wie Tiger oder Elefanten.
Kreolen haben Stil, das fanden jedenfalls wir Inder in Surinam; dieser Gang, dieses Wippen mit dem linken Bein und das träge Schlingern der Arme, fleißig übten wir diese Bewegungen, wenn wir uns unbeobachtet glaubten. Aber mehr als ein Hinken brachten wir nicht zustande.
So bedeutet Kultur im weitesten Sinne auch nichts anderes als eine Ansammlung von Stilen, von den kleinsten Eigenheiten bis zur allesumfassendsten Lebensart. Kultur ist ein Aggregat der Wissenschaft. Deshalb ist eine gelebte Kultur, wie die englischen Forscher Raymond Williams und E. P. Thompson vorschlagen, ein Ding der Unmöglichkeit. Denn wenn man in einer Kultur lebt, nimmt man diese als solche gar nicht wahr, sondern nur ein einziges Chaos aus Stilen. Der Unterschied zwischen den kurzfristigen, oberflächlichen Stilen, die ‹Mode› genannt werden, und den langanhaltenden, tiefgründigen Stilen, die wir, ja, frischauf, ‹Volkscharakter› nennen, ist gewiß nicht einfach zu bestimmen. Kultur ist grundsätzlich eine Beobachtung des Außenstehenden.
Das Objekt der Beobachtung sieht nur Eigenheiten um sich herum: indische Kinder, die mit Kokosöl eingerieben werden, weshalb sie in der Sonne wie Glühwürmchen glänzen. Indische Jugendliche, die sich genauso modisch zu kleiden versuchen wie die Kreolen von Paramaribo, es aber in Sachen Größe und Schnitt zum Scheitern verurteilt sehen, weil sie für die westliche Konfektion zu klein und auf einen Schneider angewiesen sind, der zwar Rabatt einräumt, aber keinerlei Sinn für Mode besitzt. Indische Familien, die oft Curry essen, sich sonntags aber für gebratene Sardinen in Tomatensoße entscheiden. Ich erinnere mich an einen landesweiten Aufstand im Nachbarland Guyana, als die Regierung wegen eines Devisenmangels beschloß, den Import von eingebüchsten Sardinen zu verbieten. Man hatte den Indern den Sonntag verdorben! Doch an diesem gleichen Sonntag gehen die Inder treu ins Kino, in dem indische Filme gezeigt werden: Um von einem Indien ohne Slums, Bettler, Unrecht oder Gestank zu träumen. Sie genießen ihre Sehnsucht nach dem Land ihrer Herkunft, sie laben sich am Betrug, der ihnen aufgetischt wird, gerade weil sie wissen, daß es Betrug ist. Diese Sehnsucht, wie künstlich sie auch sein mag, gehört zur Erziehung des Inders. Darum lernt er einen indischen Dialekt, kennt die Filmstars und Sänger, liebt die Musik und praktiziert die Religion. Man muß sich seiner Herkunft bewußt sein, solange man keine Zukunft daraus machen will; kein Inder will zurück nach Indien.
Der Volkscharakter des Inders, so heißt es, zeichnet sich durch Umgänglichkeit und eheliche Treue aus. Ich würde es eher Duldsamkeit nennen. Mahatma Gandhi machte die Gewaltlosigkeit zum Prinzip, aber der Durchschnittsinder duldet seine Prügel bloß in der Hoffnung, daß der Gegner der Prügelei irgendwann müde wird und von selbst damit aufhört. Und selbstverständlich denkt eine indische Frau niemals ernsthaft darüber nach, ihren Mann zu verlassen, wie schlecht er sie auch behandelt, weil sie wissen, daß eine alleinstehende Mutter von der gesamten indischen Gemeinschaft ausgeschlossen wird, gequält und verflucht. Sie ist vernünftig und bleibt bei dem brutalen Kerl, den sie zumindest kennt.
Inder verehren die Alten, saufen schon um acht Uhr morgens, stecken alles Geld in den Sparstrumpf, bescheißen ihre Kunden, lachen nur über alberne Witze, neigen zum Melodram und hegen einen bedingungslosen Abscheu vor Negern. In der indischen Sprache ist die schmeichelhafteste Bezeichnung für einen Kreolen kaffrie, womit alles gesagt ist.
Das sind nur ein paar der aberhundert Stilmerkmale und Kennzeichen, ohne daß man darin Kultur erkennen würde. Für uns in der Kolonie war das kleine Wort Kultur dem anderen Land vorbehalten, den fernen Niederlanden. Dort herrschte Kultur, dort tranken sie ordentlichen Kaffee, dort hatten Geschäfte eine Rolltreppe — bei uns in Surinam war nur ein einziger Laden mit dieser Modernität ausgestattet. Im Mutterland war alles übersichtlich. Aus der Lektüre holländischer Bücher haben wir gelernt, daß jeder in den Niederlanden unter einem Kriegstrauma leidet und die Menschen dort herrlich ungezwungen miteinander umgehen, nach einem kurzen Nicken zur Begrüßung hüpfen sie gleich miteinander ins Bett. Niederländer haben keine Eigenheiten und Stilmerkmale, so dachten wir auf dem Lyceum von Paramaribo, Niederländer haben Kultur.
In diesem Sinne waren wir schon sehr früh Einwanderer, lange bevor wir unser Land verließen, schon, als wir auf die höhere Schule überwechselten, was automatisch bedeutete, daß wir einmal unser Land verlassen würden. Unser tägliches Leben war so geprägt von diesem Drang, alles zu verlassen, daß man vielleicht doch von einem stilistischen Problem sprechen sollte. Eher eine Eigenheit als eine Lebensart, eine triviale, marginale und persönliche Angewohnheit.
Vielleicht habe ich deshalb das Gefühl, daß das, was ich hier in den Niederlanden zum Einwandererschicksal zu sagen habe, nicht feierlich und gewichtig genug ist. Das Gefühl also, daß das, was ich bereits mein ganzes Leben lang erfahre, zu banal ist, um darüber ein Wort zu verlieren. So ist das Einwandererschicksal nichts anderes als ein eingeöltes Ferkel, das man bei einem Fest im Saal losläßt: ein unfaßbares und hirnverbranntes Phänomen, dem wir keine würdige Bedeutung beimessen können. Eine alberne Abartigkeit, eine Hautkrankheit, wie Stephan Saunders es in Ai Jamaica nennt, eine Abartigkeit, die eher milde Nachsicht und väterliche Rührung weckt als aufrichtige und ernsthafte Anteilnahme.

Das Einwandererschicksal ist eine Sache des Stils, und man kann sich ihm mit den verschiedensten Stilweisen nähern. Zum Beispiel mit dem akademischen Stil, wie Stuart Hall es in seinem Buch Het minimale zelf vorgeschlagen hat. Die moderne Identität des Bewohners der westlichen Hemisphäre hat sich zersplittert, ist auseinandergefallen in eine große Zahl von Subjektivitäten, die alle von einem anderen Diskurs angesprochen werden. Das führte zur kulturellen Orientierungslosigkeit, die für die heutige Zeit bezeichnend ist und die uns Einwanderer, ohne daß wir auch nur einen Finger zu rühren brauchten, zu den zeitgenössischsten Wesen der Postmoderne werden ließ — bei wem sonst läge die Zersplitterung tiefer?
Der akademische Stil macht aus der Not eine angenehme Tugend, obwohl man sich fragen muß, ob ein Schild aus Strohgeflecht nicht praktischer wäre, wenn man von einem orientierungslosen Skinhead mit prämodernem Baseballschläger angegriffen wird. Man fragt sich auch, ob das überlegene Gefühl, ein postmoderner Held zu sein, nicht nur Lacktünche ist, die einen von außen glänzen, im Innern aber zittern läßt. Der akademische Stil gründet auf schwankendem Boden, weil in seiner Welt Skinheads und Baseballschläger nicht vorkommen.

Es gibt auch einen politischen Stil, der aus dem Einwandererschicksal ein Mittel des blanken Antirassismus macht. Es ist ein böser, aggressiver Stil, mächtig und ohnmächtig zugleich, wie eine Boa Constrictor, die eine Seekuh erwürgen könnte, aber dem Pieksen einer Stecknadel nicht standhält. Ein Beispiel dafür ist der Protest gegen die Benetton-Reklame, auf dem ein weißes Mädchen mit Engelshaar neben einem schwarzen mit zwei aufrecht stehenden Zöpfen wie Teufelshörner abgebildet ist. Der politische Stil gebietet die erbarmungslose Verurteilung dieses Photos, wo das Schwarze wieder einmal das Böse symbolisiert. Der authentische surinamische Stil hingegen offenbart sich an diesem Beispiel in Form einer ungeheuer dicken Kreolin, die in der Metro dieses Reklameposter betrachtet und nachdenklich zu ihrer Freundin sagt: «Eins verstehe ich nicht, wie haben die die Zöpfe nur so hingekriegt?»
Der einfache Volksstil hat die potentielle Gehässigkeit dieser Reklame wirkungsvoll zu einer technischen Glanzleistung mit Kraushaar umfunktioniert. Der politische Stil des Antirassismus aber will derartigen Naivitäten ein Ende setzen. Dabei zeigt man Gespür für dramatischen Effekt, doch nicht für Verspieltheit. Das Einwandererschicksal wird bedeutsam aufgewertet, indem es zu einem großen gesellschaftlichen Problem gemacht wird. Die trivialen Empfindungen eines Farbigen verwandelt sich zu einer Erfahrung des Rassismus, zu einem ethnischen Bewußtsein, einer Basis gegenseitiger Solidarität gegen die uns umgebende Feindseligkeit.
Es spricht ja auch vieles dafür. Davon hat man wenigstens was, wenn man auf dem Boden liegt und den Baseballschläger auf sich zukommen sieht. Das Problem dabei ist, daß diese gegenseitige Solidarität nur auf Haßgefühlen zu gedeihen scheint. Die Anhänger des politischen, antirassistischen Stils haben eine Brigade gebildet. Dem irrationalen Haß, den man Rassismus nennt, setzen sie eine Art rationalen Haß entgegen. Dieser Antirassismus, ein Gegen-Haß sozusagen, beruft sich auf die Geschichte, auf die Vergangenheit, als schwarzen Völkern unsäglich viel Leid angetan wurde. Das sind die nicht-anerkannten Verbrechen, das ist der verschwiegene oder zur Bagatelle herabgewürdigte Holocaust; der Rassismus gehört zum Erbgut der westlichen Zivilisation. Zweifellos darf niemals vergessen werden, daß noch 1908 einige niederländische Biologen vorschlugen, einen Neger mit einem Gorilla zu kreuzen, weil man auf diese Weise vielleicht das «missing link» in Darwins Theorie finden könnte. Zweifellos darf niemals vergessen werden, daß die Briten ihre aufständischen Sklaven zur Strafe nach Surinam schickten, weil die Holländer über ausgesprochen ausgeklügelte Foltermethoden verfügten. Wer seine Vergangenheit nicht kennt, kennt sich selbst nicht.
Aber warum sollte ausgerechnet ich den Bewohnern der westlichen Zivilisation diese Vergangenheit klarmachen müssen? Weshalb sollte ich den Europäern zu ihrer Selbstfindung verhelfen? Ich hab's doch wahrlich mit der eigenen Vergangenheit und dem eigenen Stil schon schwer genug.
Wie richtig es auch sein mag, die Weißen auf ihre Schuld hinzuweisen, eine Empfindungslosigkeit gegenüber allen Weißen, wie sie der politische Stil an sich hat, ungeachtet, ob diese bereit sind, ihren Teil der white man's burden zu tragen oder nicht, darf nicht die Folge davon sein. Einmal vertraute mir ein schwarzer Antirassist flüsternd an, daß jeder weiße Antirassist grundsätzlich der fünften Kolonne angehöre. Käme es hart auf hart, so fuhr er fort, würde es doch jeder Weiße für den anderen aufnehmen. Ein etwas extremer Fall, das gebe ich zu, vielleicht war er ein Idiot, vielleicht aber auch nur die Spitze eines Eisbergs.
Diese Empfindungslosigkeit, die an Sadismus grenzt, ist bei der politischen Aufarbeitung des Einwandererschicksals merkwürdig genug mit Überempfindlichkeit gepaart. Es sei an die Benetton-Reklame erinnert: Die Boa Constrictor fühlte sich doch ordentlich gepiekst.

Dennoch halte ich die Anhänger des politischen Stils für sehr wichtige Leute, zum einen aus rein opportunistischen Gründen bezüglich des Strohschilds und des Baseballschlägers, zum anderen aber auch aus einfacheren, freundschaftlicheren Gründen. Wir alle haben zusammen in der Kolonie gelebt und geträumt, zusammen die Überfahrt gemacht und uns gegenseitig gefragt, was wohl mehlige Kartoffeln sein könnten und was man gegen kalte Füße tun könne. In der Kolonie gehörten wir der Mittelklasse an, waren Kinder von Lehrern und Beamten, dazu bestimmt, einst dicke Magisterarbeiten über die Sklaverei und Vertragsarbeit zu verfassen. Wir haben Frantz Fanon gelesen, Malcom X, das Tagebuch Che Guevaras, 500 Jahre Conquista. Die dritte Welt im Würgegriff von Eduardo Galeano, Afrika: Die Geschichte einer Unterentwicklung von Walter Rodney, mindestens zwei Taschenbücher von James Baldwin und Alice Walkers Die Farbe Lila.
Der politische Stil setzt nun einmal ein überentwickeltes historisches Bewußtsein voraus. Aber warum geht es fast immer einher mit einem unterentwickelten sozialen Bewußtsein? Die Grimmigkeit, die Wut und Verbitterung führen eher zu Gleichgültigkeit als zu Solidarität. In ihrem Grabenkrieg hinterlassen die Antirassisten auf allen Seiten Opfer, nur nicht auf seiten des echten Feindes.
Verleugne ich die Notwendigkeit eines politischen Stils, der gegen Vorurteile und negative Stereotypen ankämpft? Keineswegs. Ich bezweifle nur den Erfolg der gewählten Methode. Ist es denn wirklich nur eine Frage des Stils? Ja, es ist wirklich nur eine Frage des Stils, das sagte Bukowski doch schon.

Ein anderer, weniger verbitternder Stil, sein Einwandererschicksal aufzuarbeiten und in Worte zu fassen, ist der literarische Stil. Und um der Banalität dieses Problems zu entgehen, will ich mich ihm so feierlich wie möglich nähern und Hilfe suchen beim größten Stilisten der Welt, welcher eine Romanfigur schuf, mit der wir Einwanderer uns vollständig identifizieren können. Dieser Schriftsteller heißt Gustave Flaubert, und bei der Romanfigur handelt es sich natürlich um Madame Bovary.
Es mag weit hergeholt scheinen, einen Einwanderer ausrufen zu lassen: Madame Bovary, das bin ich. Aber die Vorstellung hat mich nicht mehr losgelassen, seit ich dieses Buch in Surinam las, in einer verfehlten Übersetzung und inmitten einer nicht minder verfehlten Lufttemperatur. Nicht, daß ich begriffen hätte, warum dieses Buch mich so ansprach. Hatte Flaubert dies beabsichtigt? Es ist recht unwahrscheinlich, daß er mich als Leser ins Auge gefaßt haben mag. Damals, als er das Buch schrieb, herrschte in Surinam noch die Sklaverei, und meine Vorfahren plagten sich noch auf den Reisfeldern von Uttar Pradesh. Was wußte Flaubert überhaupt von der Dritten Welt? Daß man sich dort die Syphilis holen konnte. Mit neunundzwanzig reiste er nach Kairo und verlor unverzüglich seine europäische Reinheit an eine ägyptische Kurtisane. Vier Jahre vorher hatte er geäußert, Brahmane werden zu wollen, kam also meiner Meinung nach der Sache doch schon beträchtlich nahe. Aber nicht lange davor wollte er ein Schwein werden, oder Eseltreiber. Allzu ernst sollten wir also Flauberts Absichtserklärungen nicht nehmen.
Flaubert war bereits zweiunddreißig, als er zum ersten Mal einen echten schwarzen Menschen sah. 1853 schreibt er in einem Brief: «Es waren Kaffer, die man gegen ein Entgeld von fünf Centimes in der Grande Rue besichtigen kann. Wilde Tiere mit Tigerfellen auf dem Rücken, die unartikulierte Schreie ausstießen und wie die Affen um einen Topf glühender Kohlen hockten. Vier waren es, scheußlich anzusehen, übersät mit glitzernden Amuletten und Tätowierungen, mager wie Skelette. Ihre Haut hatte die Farbe einer zerrauchten Pfeife, sie hatten ein plattes Gesicht, weiße Zähne und riesige Augen, ihre verwirrten Blicke waren Blicke des Kummers, des Erstaunens und der Dumpfheit, und kauerten um die glühenden Kohlen wie ein Nest Kaninchen. [...] Ich schien die ersten Menschen der Welt vor Augen zu haben. Sie waren eben geboren und krochen noch mit den Kröten und den Krokodilen um die Wette.»
Einer der Wilden, eine Frau von ungefähr fünfzig Jahren, verliebte sich sofort in Flaubert: «Sie näherte sich mir in unzüchtiger Weise», schreibt Flaubert, «und wollte mich umarmen, was die übrigen Zuschauer ziemlich entsetzte. Ich blieb eine Viertelstunde, und sie war eine einzige Liebeserklärung der primitiven Frau an mich.»
War Flaubert Rassist? Diese Schlußfolgerung wäre übereilt, denn im selben Brief fährt er fort: «Was habe ich nur an mir, daß alles, was schwachsinnig, verrückt, idiotenhaft und wild ist, auf den ersten Blick in Liebe zu mir entflammt? Erkennen die armen Geschöpfe mich vielleicht als einer der ihren? Spüren sie, daß es zwischen uns irgendein Band gibt? Das wird es wohl sein.»
Flaubert versprach, dieser ethnischen Frage auf den Grund gehen zu wollen. In Madame Bovary merken wir noch nicht allzu viel davon, das Gespräch zwischen dem Apotheker und Léon vielleicht ausgenommen, wo letzterer sich fragt, wie es wohl wäre, mit einer Negerin ins Bett zu gehen. Ach, antwortet der Apotheker, das sei wohl eher was für Kenner.
Aber ich bleibe dabei, daß man Madame Bovary als frühe Allegorie dessen lesen kann, was man später das Einwandererschicksal nennen wird. Wer das Buch nur oberflächlich gelesen oder Chabrols Verfilmung des Romans gesehen hat, mag glauben, Madame Bovary handele vorwiegend von der Liebe. Weit gefehlt, das meinte auch Jonathan Culler bereits 1974: Die Liebe sei nur eine Metapher für die Sehnsucht, und im Grunde gehe es in der Madame Bovary um die Zweieinheit aus «Langeweile» und «Enttäuschung». Ist man sich einmal dessen bewußt, findet man auf jeder Seite Beweise für diese Sichtweise. Aus reiner Langeweile geht die junge Emma ins Kloster, auf der Suche nach Gott, über den sie so viel gelesen hat. Das ist der Vorgeschmack auf ein immerwiederkehrendes Thema: Lesen. Es bedeutet, Erfahrungen in der Phantasie zu sammeln. Und wer diese imaginäre Erfahrung in der Wirklichkeit erleben will, muß sich am Ende betrogen sehen. Also ist Emma enttäuscht und verläßt das Kloster. Wieder zu Hause, langweilt sie sich, die Flaubertsche Langeweile, die nichts mit Müßiggang oder Faulheit zu tun hat, sondern mit unerfüllten Erwartungen, mit Sehnsüchten, die einst von der Literatur geweckt worden waren.
Wann wird endlich eintreffen, worüber sie bisher so viel gelesen hat? Als sie Charles Bovary, den Dorfarzt, trifft, glaubt Emma sich am Ziel ihrer Sehnsüchte. Jetzt endlich wird sie erfahren, was Verzückung, Leidenschaft und Rausch zu bedeuten haben, Worte, die ihr in den Büchern so gefallen hatten. Aber man weiß, daß Emma die Gespräche mit ihrem Mann schon nach ein wenigen Tagen «flach wie einen Bürgersteig» findet, «über den Allerweltsgedanken in Alltagskleidern schlendern, kaum imstande, irgendein Gefühl zu erwecken oder ein Lachen, eine Träumerei».
Emma fängt an, Charles zu hassen, aber mehr noch haßt sie ihre eigene Passivität und Orientierungslosigkeit. Wieder gibt sie sich der schicksalsträchtigen Beschäftigung hin: dem Lesen. Sie liest über die andere Welt, über Paris, die Aristokratie, die Stadtmode, sie liest über Stil, Musik und Tanz, über berühmte Menschen und wie sie sich die Zeit vertreiben. Aber das alles hat nur eine panikartige Sehnsucht zur Folge.
Da lernt sie den gutaussehenden, reichen, eleganten, abenteuerlichen und galanten Rodolphe kennen, und die Frage stellt sich, ob es diesen Rudolphe auch wirklich gibt oder er nur eine Figur aus jener Schundliteratur ist, die Emma ihr ganzes Leben lang verschlungen hat. Ich folge hierbei der Deutung Woody Allens. In seinem Buch Nebenwirkungen findet sich die Geschichte über einen gewissen Professor Kugelmass, deren Grundidee im übrigen zu dem Film The purple rose of Cairo umgearbeitet wurde. Emma, so suggeriert Allen, begeht Ehebruch mit jemanden, der eigentlich in ein Buch gehört. Im Grunde hatte Emma schon lange Ehebruch begangen und war ihrem Gatten, jedesmal, wenn sie ein Buch las, untreu geworden. Aber Emma ist sich dessen nicht bewußt und weiß auch nicht, daß der Ehebruch mit Hilfe der Literatur um so vieles reizvoller ist als der Ehebruch im Grünen mit einem Mann aus Fleisch und Blut.
Emma vertauscht Traum und Wirklichkeit, sie will zu einer Romanfigur wie Rodolphe werden, will mit ihm fliehen und in einem niedrigen Haus mit flachem Dach wohnen, überschattet von einer Palme — also in einem Haus in den Tropen? Keineswegs, das ginge zu weit. Ein Mensch kann die Literatur noch so sehr lieben, aber er kann niemals zu Literatur selbst werden. Wer Traum und Wirklichkeit durcheinander bringt, wer zu sehr in der Welt der Literatur aufgeht, begeht eine Torheit. Er wird irre oder im günstigsten Falle unglücklich. Flaubert hatte eine Schwäche für Torheiten, und Emma Bovary ist im Grunde die vollkommene Schöpfung einer törichten Person. Glück ist eine Folge der Unschuld und des Mangels an Selbstbewußtsein, der Unwissenheit. Menschen, die das Lesen lieben, sind grundsätzlich unglücklich. Sie leben in einer Realität, die es nicht gibt, sie ahnen, wie der Pudding schmecken muß, ohne einen Bissen von ihm nehmen zu können.

Warum behaupte ich nun, daß Einwanderer die vollkommenen Emmas sind? Das liegt geradezu auf der Hand: In den Kolonien verschlangen wir Bücher niederländischer Autoren wie Hermans, Reve, Wolkers, Arthur van Schendel, Bordewijk, Slauerhoff, Bomans und Carmiggelt. Wir erfuhren eine Welt, die nicht die unsere war, eine Traumwelt, von der einen Happen nehmen wollten, sooft wir zur Bibliothek gingen. Die Geschichten aus dem Mutterland halfen uns dabei, dem Wirrwarr aus Eigenheiten zu entkommen, in dem wir gefangen waren; wir träumten von einem Leben ohne Kokosöl auf der Haut, von Kleidern mit passendem Schnitt, von einem Beefsteak statt Sardinen, von Filmen, die kein verlogenes Bild einer Vergangenheit, sondern ein ehrliches Bild der Gegenwart lieferten, von einer Welt ohne Gewalt und rassistisch begründetem Abscheu. Auf dem Lyceum wurden wir buchstäblich getriezt für die Reise in die andere Welt. Uns wäre nicht im Traum eingefallen, bei unserem Charles, dem Vaterland Surinam, zu bleiben.
Ich gebe zu, daß wir einen Augenblick lang stolz und glücklich waren, als das Land unabhängig wurde, aber sehr rasch wurden die Gespräche darüber flach wie ein Bürgersteig. Das Land war nichtig, schwach und banal.
Ich gehöre einer Generation an, die zwanghaft Ehebruch begehen wollte, wir waren von der gleichen verderbten Art wie Emma Bovary und so von der Welt der Literatur besessen, daß die ganze Kolonie nur eine nagende, quälende, irremachende, Flaubertsche Langeweile war.
Jeder echte Einwanderer weiß deshalb genau, was es zu bedeuten hat: ein Leben voller unerfüllter Erwartungen und Sehnsüchte, die immer stärker werden. Wir gierten und verzehrten uns nach unserem Rodolphe; entführe mich, riefen wir im Chor und machten die große Überfahrt.
Wir zogen in die Welt, wo es «ein starkes und schönes Wesen gab, eine tapferne Natur, leidenschaftlich und zartfühlend zugleich, eine Dichterseele in Engelsgestalt, eine Leier mit bronzenen Saiten, die wehmütige Hochzeitslieder zum Himmel emporsandte»; Flaubert war ein großartiger Stilist, und im Übertreiben war er auch nicht schlecht.
Aber Sie haben es ja inzwischen begriffen: Es hat sich nicht gelohnt, dieses Wesen zu suchen. Und Emma Bovary begreift es im letzten Kapitel, als sie über ihr Leben nachdenkt, schließlich auch: «Alles ist Lüge. Jedes Lächeln verbirgt ein Gähnen der Langeweile, jede Freude einen Fluch, jeder Genuß seinen Ekel, und die heißesten Küsse hinterlassen auf den Lippen nur das unstillbare Verlangen nach noch höherer Wollust.»
So fanden wir im Ehebruch nur die ganze Gewöhnlichkeit aus der Ehe mit Charles wieder. Das Leben in den Niederlanden war beileibe nicht das, was die Bücher uns vorgespiegelt hatten, die Bewohner des Mutterlandes erwiesen sich nicht als generös, scharfsinnig, offenherzig und freundlich. Im Gegenteil, sie waren steif, argwöhnisch, kalt, nüchtern, bärbeißig, voreingenommen und so einsam, daß sie lange Gespräche mit ihren Haustieren führten. Außerdem machte uns das Mutterland auf eine kränkende Weise klar, daß es nicht gerade auf uns gewartet hatte und wir niemals mehr als null und nichtig sein würden.
Von der Flaubertschen Langeweile gerieten wir in die Flaubertsche Enttäuschung. Hatten Hermans, Reve, Slauerhoff und all die anderen uns das versprochen? Am Ende weiß jeder Einwanderer, daß er betrogen ist, und zwar vor allem von den eigenen Erwartungen: Den himmlischen Hoffnungen aus den Kolonien, als wir noch unwissend waren, als wir noch an Träume glaubten. Jetzt erst sehen wir die Wirklichkeit: die kühle Art, miteinander umzugehen, die nüchterne Lebensart. Kultur? Wohl kaum. Jetzt herrscht im Mutterland das Stilchaos, der Mischmasch verwirrender Eigenheiten. Und dort, im verlassenen, beklagenswerten Vaterland, sehen wir nicht mehr bloße Stilmerkmale, sondern erkennen eine echte Kultur.

Das Leben zwischen zwei Kulturen ist das Leben zwischen Traum und Wirklichkeit und somit zwischen Langeweile und Enttäuschung: Das Einwandererschicksal scheint endgültig in dem der Verbitterung zu enden. Aber warum, so frage ich mich, sollten wir von der Enttäuschung nicht wieder zurück können zur Langeweile? Wir wußten doch, daß Träume niemals wahr werden, hat das uns am Träumen gehindert? Julian Barnes sagt in Flauberts Papagei, Flaubert habe auf meisterhafte Weise vorgeführt, daß die zuverlässigste Form des Genusses die Vorfreude darauf ist. Was nütze es jemanden, auf den trostlosen Dachboden der Befriedigung zu steigen, fragt er sich und spielt damit auf die Passage in Madame Bovary an, in der Emma ihre schönen, tränenglänzenden Augen zur Zimmerdecke richtet und seufzt: «Wenn Sie wüßten, was ich mir alles erträumt habe!»
Aber ist Emma in den vergangenen hundert Jahren vielleicht nicht doch klüger geworden? Gibt es wirklich keinen Weg zurück, wenn man einmal den Schritt von der Illusion zur Realität gemacht hat? Ich glaube schon. Wir Einwanderer, die zugeben, Emma Bovary zu sein, brauchen nicht wieder verirrte Träumer zu werden — obwohl dagegen auch nichts einzuwenden wäre. Aber wir können lernen, auf unserem trostlosen Dachboden zu leben, und zwar mit Stil, wie Rushdie, Naipaul, Ghosh, Okri und viele andere es uns vormachen. Vielleicht ist es das Los derer, die in zwei Kulturen leben: daß sie zweimal entführt werden müssen.

Anil Ramdas

Kurzschrift 1.1999, S. 21 – 33

Aus: Anil Ramdas, De papegaai, de stier en de klimmende bougainvillea, Amsterdam 1992, S. 100 – 111; aus dem Niederländischen übersetzt von Ira Wilhelm; mit freundlicher Genehmigung des Autors

Das photographische Portrait von Anil Ramdas stammt von roel1943 unter CC

 
Mi, 15.04.2009 |  link | (3092) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Essai






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