Phänomen Charme

Eines der größten Mysterien in dieser Vernunftzeit ist das Phänomen Charme. Wir gebrauchen den Begriff in all seinen sprachlichen Erscheinungsformen ziemlich gedankenlos, aber höchst bewundernd oder sehnsuchtsvoll, wie es scheint — als ob es um eine Adelung ginge oder zumindest um eine Ordensverleihung besserer Klasse.

Was ist Charme? Laut Wörterbuch hat man darunter ein «bezauberndes, gewinnendes Wesen» zu verstehen. Etymologisch läßt sich Charme herleiten vom lateinischen carmen, und dieses Wort bedeutet nicht nur «Gesang, Lied, Gedicht», sondern auch «Zauberspruch, Zauberformel».

Also: Simsalabim!

Eine Sie oder ein Er «hat viel Charme», «besitzt hinreißenden Charme», der manchmal sogar «ererbt» ist (von einem geheimen Nummernkonto der Ahnen: steuerfrei). Dieser «eigene, persönliche» Charme ist ein Kapital, denn er «gewinnt alle», weil er «so liebenswürdig, unwiderstehlich, verführerisch» ist und im schlimmsten Fall «natürlich».

Dabei handelt es sich keineswegs nur um den berüchtigten «diskreten Charme der Bourgeoisie», die ihn «lässig ausstrahlt», «gepaart mit Chic» und «voller Eleganz». Oscar Wilde meinte, in seinen besseren Zeiten: «Alle charmanten Leute sind verwöhnt, darin liegt das Geheimnis ihrer Anziehungskraft.»

Es gibt aber auch Personen, die «nicht ohne» Charme sind, von denen «ein gewisser» Charme ausgeht, und die müssen gar nicht erst ihren «ganzen Charme spielen lassen, entwickeln, aufbieten». Einem solchen Charme kann man ebenso «erliegen», wenn nicht sogar «verfallen».

Diesen Reiz über nicht nur Menschen aus. Auch Städte und Landschaften «entzücken» mit ihren Charme: Wien, zum Beispiel, das auf Charme geradezu abonniert ist, oder Paris, das traditionell sowieso Charme hat, von der Toscana ganz zu schweigen. Dagegen hat Gelsenkirchen es schwer.

Einer, der Charme «verströmt», wird Charmeur genannt. Das ist ein «Mann, der die Frauen durch sein gewinnendes Wesen für sich einzunehmen versteht», laut Wörterbuch (für das die Welt heterosexuell noch in Ordnung ist).

Besonders hüte man sich vor den «ausgesprochenen» Charmeuren, die schon als solche bekannt sind: gern werden sie auch als «Charmebolzen» bezeichnet, wenn sie «charmant plaudern» können und sich auch sonst «von ihrer charmanten Seite» zeigen. Kommen sie in die Jahre, gelten sie bestenfalls als «alte Charmeure» oder verzehren ihr Gnadenbrot als «charmante Großväter».

Nicht gerade sehr charmant geht die Sprache, gehen ihre Erfinder und Benutzer mit dem weiblichen Pendant des Charmeurs um. Als Charmeuse bezeichnet man «maschinenfeste Wirkware aus Kunstseide oder synthetischen Fasern», aus der Unterwäsche hergestellt: Dessous. So sieht also die Reverenz vor der Frau aus, der wir — mutmaßlich — das Wort charmant verdanken. Aber sie ist ja auch eine Mann-Phantasie.

1696 — vor 300 Jahren! — erschien Christian Reuters abenteuerlicher Schelmuffsky-Roman, in dem der Titelheld für eine «Dame Charmante» entflammt, und die ist eine ziemlich lockere Lose, um nicht zu sagen: schockcharmant. So hat Grimms Wörterbuch für charmant und charmieren auch nur spärliche sechs Zeilen übrig: dort ist «die charmante, die geliebte»; und auch Zitatbeispiele wie «charmante Seele» oder «er hat ihr einen charmanten Brief geschrieben» richten ja wohl kaum Unheil an.

Etwas skandalöser erscheint da schon die eigenwillige Charme-Vorstellung Arthur Schopenhauers: «A.: Wissen Sie schon das Neueste? B.: Nein, was ist passiert? A.: Die Welt ist erlöst! B.: Was Sie sagen! A.: Ja, der Liebe Gott hat Menschengestalt angenommen und sich in Jerusalem hinrichten lassen: dadurch ist nun die Welt erlöst und der Teufel geprellt. B.: Ei, das ist ja ganz scharmant.»

Vorsicht Charme! Er ist etwas sehr, sehr Suspektes. Die Filmschauspielerin Cathérine Deneuve, die nicht nur schön ist, sondern anscheinend auch gescheit, befand: «Charme und Perfektion vertragen sich schlecht miteinander. Charme setzt kleine Fehler voraus, die man verdecken möchte.» Diese Erkenntnis ließe sich mit einem ähnlichen Bonmot konkretisieren: «Charme ist jene Gabe, die andere vergessen läßt, daß man aus dem Munde riecht.»

So scheint Charme (auf den solipsistische Eremiten sicher gern pfeifen) eigentlich nie interesselos und zweckfrei zu sein: Wenn jemand «alle Register seines Charmes zieht», dann müßten im Grunde rote Warnlichter aufblinken und sämtliche Sturmglocken läuten, bevor wieder ein verhextes Opfer — im Büro oder im Schlafzimmer — aufs Kreuz gelegt wird und auf der Strecke bleibt. Charme kennt kein fair play. Nach Spinnenart «wickelt er ein». Curt Goetz: «Ob die Liebe ein Glück ist? Jedenfalls ist sie das charmanteste Unglück, das uns zustoßen kann.» Na ja, immerhin.

Charme hat etwas mit unseliger Operettenseligkeit zu tun: «Ich küsse Ihre Hand, Madame ...» — fehlt nur noch Johannes Heesters im Frack. Der polnische Dichter Witold Gombrowicz möchte uns mit seinem bösartigen Theaterstück Operette dieselbe austreiben. Eine der Hauptfiguren heißt Graf Charme. Der ist sehr anachronistisch und dekadent. Man liebt ihn auf der Stelle.

Deshalb soll Max Frisch nicht so schweizerisch-säuerlich tönen: «Charme zur Haltung gemacht, ist etwas Fürchterliches. Waffenstillstand mit der eigenen Lüge.» Klar: Lüge. Natürlich alles Lüge.

Aber Hauptsache, sie ist charmant.

Niels Höpfner

Laubacher Feuilleton 17.1996, S. 3
 
Di, 17.02.2009 |  link | (2179) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Essai






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