Lethes Freibrief

An der Eingangstür der Buchhandlung im Universitätsviertel hing ein weißer Zettel: «Suche Student, der lesen und schreiben kann, für einfache Arbeiten und für länger.» War das ein Witz? Weshalb dieser Einschub? Weshalb diese fast uneinlösbaren Voraussetzungen für einen Hilfsjob? Student, Lesen, Schreiben; das sind doch Synonyme. Sogar ich selber kann mich noch gut an meinen ersten selbstgeschriebenen und vorgelesenen Satz erinnern: «Otto und Else werfen den Ball.» Dieser Satz könnte als Präambel für die gesamte Philosophie des dialogischen Diskurses stehen. Man muß ihn nur deuten. Was aber hatte den Chef der Buchhandlung zu dieser mit Verzweiflung und stiller Resignation unterfütterten Tautologie verleitet? War es die Legende um Diogenes, der am helligten Tag mit einer Laterne über die Athener Agora spazierte und gefragt wurde: «Was tust du mit dem Licht?» und dann erwidert haben soll: «Ich suche Menschen!»?

Das Lamentieren über den sozio-kulturellen Qualitätsverlust im allgemeinen gehört zum geriatrischen Habitus wie die Kritiklosigkeit in die juvenile Unbedarftheit. Nach außen hin Wohlgehütetes — wie Selbsterhöhung und versteckte Kapitulation vor dem Neuen — finden hier ihren romantisch-melancholischen Auslaß in eine Wertegemeinschaft, die alles vergessen hat, was nicht vermünzbar ist.

Das Gefühl, mit seinen Qualitätsansprüchen alleine dazustehen, hat für alle Völker und Individuen jedoch etwas Olympisches. Es unterstellt dem Großteil biotischer Wesen, mehr aus Spreu denn aus Weizen zu bestehen, wobei die eigene Zugehörigkeit unterschwellig gleich mitdefiniert wird. Aber der ‹Club der vor die Säue perlenden Individuen› (CSI) fürchtet einzig und allein um ein göttlich' Prinzip: das heißt Macht.

Macht ging über in Menschenhand, als die einem Gott zugeschriebene firmamentige Sternenschrift mit der Erfindung der Schriftzeichen durch tabubrechende Individuen konvertiert werden konnte. Das große ‹W› der Kassiopeia fand Aufnahme in viele Alphabete und hat sich bis zur Einrichtung der Internetadressenanfänge verkleinert verdreifachen können. Sternenschrift, für deren Deutung die Babylonier eine ausgeklügelte Konstellationsdeutung erfanden, gelang in Menschenhand wie damals das Feuer, das Prometheus auf die Erde brachte. Ohne Erlaubnis! Als aber Salomo Saturn fragte: «Sage mir, wer zuerst die Buchstaben ritzte!» war die Antwort: «Mercurius, der Riese.» Warum gerade dieser geschäftige Kaufleutegott, der dem Merkantilismus seinen Namen gab? Dieser Finanzjongleur, der mit Buch und Buchung gleichermaßen geschickt umzugehen versteht. Besaß er etwa den Ball von Otto und Else?

Die Anmaßung des graphologischen Tabus hatte die kosmologische Sky-Screen, den ersten kollektiven TV-Monitor der Menschheit, zum Ausgangspunkt einer Spracharchitektur des Buchstabenbaus gemacht. Malen, Ritzen, Kerben waren ihre Anfänge. Die Geschichte der Schrift ist eine Geschichte vom Kerbholz, das Joy-Stick werden durfte. Ihr Hauptanliegen war das Fixieren dessen, was man über die Konstruktion Zeit als Geschehen durch Erleben wahrnahm. Zugriff auf Vergangenes und Planungsvorsprung für die Zukunft waren Vorteile, die die rein verklingende Wirklichkeit von Sprache beliebig verzeitlichen konnte. Die Konsequenz: Das ausschließliche Erleben in der Gegenwart, das Hier und Jetzt, wurde durch Schrift für lange Zeit aufgehoben. Das Erleben hat sich durch Schrift ein kollektives Gedächtnis geschaffen, das große Kapazitäten von unerlebten Zeiträumen reproduzieren kann. Bilder konnten das nie leisten. Bilder sind analoge Prägungen von Zeitschnitten und fransen hermeneutisch leicht mehrwertig aus. Wörter dagegen sind gestellte Staben, die erst in ihrer sinnvollen Reihung und der dechiffrierenden Lesung Aussagekraft bekommen. Das Bildfreie der Texte war für den Analphabeten Zauber und Ausschluß zugleich.

Früh schon bedeutete Schrift- und Lesekundigkeit, Anteil am ‹Amtlichen Gedanken› zu haben. Zeigefinger und Daumen (digitus) wurden Lesemodi unterstützende Werkzeuge, ob von links nach rechts, von rechts nach links, von oben nach unten, von unten nach oben. Die Ordnung der Staben eines Textes wurde durch kenntnisreiches Kombinieren so betrieben, daß Information, die den Aggregatzustand und seinen Träger gewechselt hatte, verlustfrei abgeleitet werden konnte. Informant und Informierter, in augurierter Konspiration, lösten sich von den Idiotes ab. Kultur war entstanden. Ein kognitives Zweiklassensystem war geboren, das der kulturellen Welt Macht über die mythische geben konnte. Nomos und Logos hatten sich vom Mythos abgesprengt. Die an Volksmythologien, spät erst Aberglauben genannt, gebundene Welt blieb auf ihren Bildvorstellungen sitzen, erhielt sich aber dadurch das Kindliche an der Phantastik. Das Resultat war Regierbarkeit durch die Inaugurierten, die das, was sie weitergeben wollten, wieder in Bilderbücher rückübersetzten.

Die biblia pauperum steht für eine erste, bewußt produzierte Infiltrationsdidaktik für das analphabetische Volk. Das Prinzip Computer ersetzt sie heute genauso flächendeckend wie unkritisch. Chiffrieren und Dechiffrieren, Codieren und Dekodieren, Pervertieren und Konvertieren, Legieren und Delegieren, Lektieren und Selektieren — alles hängt mit Schreiben und Lesen zusammen, sind Macht- und Gesetzesparameter. Eine Choreographie der Daumenstellung. Göttlicher Kult und erdenschwerer Ritus wurden durch eine Art anthropozentrische Black-Box geschickt, um im Schriftsinn das Wissen der Welt zu speichern und gegebenenfalls zu reproduzieren, während sich die Welt der Kleinen Leute von Generation zu Generation weiterhin Märchen erzählen mußte, um einen vagen Überblick über ihr kollektives Seinsverständnis zu erhalten. Das phonetische Erbe, das generative Hinüberziehen der Geschichten im ursprünglichen Sinn, heißt Tradition.

Im Laufe der Zeit hat das tradierte Bewußtsein jedoch den Erzählspeicher der Analphabeten gesprengt und verlangt nach erdkreisverspannender technischer Dienstleistung. Nun hat das literarische Bewußtsein auch noch die Grenzen der bioanthropologischen Kapazität erlangt. Kein Mensch ist mehr in der Lage, als uommo universale über die Enzyklopädie des Weltwissens zu verfügen. Die hirnmäßigen Kapazitäten haben sich durch die Zugriffstechnik auf Surrogatspeicher erweitern lassen: unendlich brachliegendes Wissen als potentielle Energie mangelnder Denk- und Memorierleistung. Wieder droht Machtverlust.

Da auf einmal waren sie da, die beiden epochemachenden Erfindungen: Halbleiter und Mikroprozessor. Elektro-digitale Technik zur Entlastung der bioanthropologischen Merkfähigkeit. Was Humboldt, Herder, Lessing, Goethe nach der mythisch-literalen Einfalt der Edda und der teutschen Zupfgeigenhansellyrik an Dichtung und Wahrheit aufgeforstet und was die Grimms fein dokumentiert und inventarisiert hatten, fiel einer Libatio mit Lethes Nepenthes anheim und wurde zu einem Synonym des Identitätsverlustes durch ‹Alzheimer›, jener schwarzlöchrigen, cerebralen Degeneration, die sich einstellt, wenn das Gehirn nicht mehr gebraucht wird. Denn jedes Organ (im weitesten Sinne) stellt seine Tätigkeit ein, wenn es sich überflüssig vorkommt oder schlecht behandelt wird.

Aus schreibenden und lesenden Denkern hat die Technik User gemacht, die viel vom handling, briefing und banking verstehen, aber die große kollektive Legierung mit dem Weltverständnis über Bord geworfen haben. Deshalb verstehe ich die Not des Buchhändlers, der nach einem Studenten sucht, der lesen und schreiben kann. Er sucht ja nur einen Menschen!

Herbert Köhler

Kurzschrift 3.2000, S. 51 – 54
 
Sa, 07.02.2009 |  link | (2952) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Essai






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