Dreistein

Ein Feuilleton-Feuilleton

Dreispalter, Vierspalter. Fünf Spalten und eine Illustration. Freilich nehmen wir auch die ganze Seite. Denn die Schlagzeilen, jene aufreißerisch verdichteten Schlagseiten, muten glaubwürdiger an, wenn wir ihnen dort, wo die Basis zittert und flattert, etwa im Blockabsatz kurdischer oder schiitischer Minoritäten, ein paar Cicero mehr einräumen. Andererseits: Ob Welt- oder Geldpolitik, ob Hussein oder Husten, ob profan oder sakral — Qualität kommt nicht von ungefähr, jedenfalls kommt sie vor Quantität. So mag die Nachrichten-Situation verführerisch duften oder penetrant riechen, ganz nach Lage der Dinge und Stand der Personen, wir wollen beharrlich kommentieren, was Alltag und Allnacht bescheren. Dabei stolpern wir, die Feuilletonisten, immer wieder in die Grauzonen, fernab jeglicher Dialektik. Denn die Kunst der wissenschaftlichen Gesprächsführung und das Denken in Gegensatzbegriffen hat uns, schon vor fünfundzwanzig Jahren, der Endspieler Theodor W. Adorno genommen, rigoros und aussichtslos, versteht sich. Unvergessen seine Klage, die damals, im Jahr 1967, den ersten Achtundsechzigern anti-etablish-halb-nihilistischen Rückenwind spendierte: «In der zeitgenössischen Kunst», mäkelte Adorno, «zeichnet sich ein Absterben der Alternative von Heiterkeit und Ernst, von Tragik und Komik, beinahe von Leben und Tod ab.» Derlei Schwarzmalerei, grundiert mit Leinöl aus dem Hause Beckett («Lachen über die Lächerlicherlichkeit des Lachens»), steht im Widerspruch zur Pop art oder zum Orgien-Mysterien-Theater von Hermann Nitsch. Oder doch nicht? Alles eine Frage der Interpretation? Also Sprache? Die, so wußte ein anderer Vor- und Nachdenker der Nation, versagt bisweilen: Wenn's um Bach oder Schubert ging, dann verkündete Einstein, mit der Geige unterm Arm, die große Leidenschaft: «Musizieren, Lieben - und Maulhalten!» Das Maul halten — Respekt vor der Note, Skepsis in Sachen Wort. Einstein, Zweistein, Dreistein; Einspalter, Zweispalter, Dreispalter — oder mehr? Ja, die ganze Seite, die ganze Lust! Und dabei, aus dem Niederländischen, wieder eine Erinnerung: «Lust lokt lust», Lust macht Lust! Kraftfutter für schwindsüchtige Frontberichterstatter und für ihre wohlgemuten Gegenspieler aus dem Krisenlager westlicher Wohlstandsentsorgung. Butterberge und Bilderberge, Mozartkugeln im Dutzend, zwischendurch eine Stasiakte oder einen Leninkopf ohne Körper; am liebsten — das haben wir von aspekte gelernt — eine grellgrüne Nacht, halb Bürgerkrieg in Kambodscha, halb Sylvesterfeuerwerk in Dingskirchen. Außerdem: Resteverwertung Angola — nach 15 Jahren, der Untergang in Kroatien, der Widerstand in der Sowjetunion. Ereignisse, die nichts, gar nichts mit Unterhaltung zu tun haben, die dennoch den Feuilletonisten rufen. Nur er hat, in Zeiten überall aufflammender Unfreiheit, die Chance zum freien, unbekümmerten Blick, zum Urteil zwischen allen Disziplinen und Fraktionen. Freilich begibt er sich dabei ins Risiko: Allzu schnell kann er nämlich ins Niemandsland der Maulhelden geraten, wo alles versprochen und nichts gehalten wird. Doch angesichts der großartigen Möglichkeit, zwischen Lust und Last (Adorno zum Trotz) neues Terrain zu erobern, ist das Risiko des Scheiterns gering. Und wenn wir dorthin schauen, wo Hermanns Prinzendorfer Schlachtfeld längst blutige Realität geworden ist, dann können wir ohnehin nur beschämt aufs blütenweiße Manuskriptpapier blinzeln — und unsere Berufung in Frage stellen. Motto: Wem die Stunde schlägt. Just dieser Hemingway, dieser Einstein der Kriegsberichterstattung, tröstet den frustrierten Feuilletonisten: «Mich tröstet man nicht. Verstehen Sie? Nein, mich nicht. Mich nie mehr.» Hoffnung? Hoffnung auf kollektives Überleben? Schön wär's.

Karlheinz Schmid

Laubacher Feuilleton 1.1992, Editorial, S. 1
 
So, 12.10.2008 |  link | (1594) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Essai






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