Minnesang und Tingeltang

Wie die kleinen Künste mit den Jahren groß geworden sind

Für sein Projekt Freßtheater hätte der Kabarettist Helmut Ruge 1977 gern 8.000 Mark aus dem Steuersäckel gehabt. Dem Münchner Stadtrat war dies ein suspektes Anliegen, ein plebejisches zudem. In der Verbindung von Völlerei und Kunst vermochten die Stadtväter und -mütter nichts Förderungswürdiges zu entdecken! Ein kategorisches Nein fegte diesen allerdings kulturhistorisch bedeutsamen Vorschlag vom Tisch.

Essen, Trinken und Theater unter einem Dach war nämlich bereits vor der Jahrhundertwende das Rezept für ein Unterhaltungsmenü, das unter dem Begriff Kleinkunst populär wurde. Chat noir nannte Monsieur Rudolphe Salis sein am 18. November 1881 auf dem Pariser Montmartre eröffnetes Cabaret, seine Kleinkunstbühne. Cabarets hießen die kleinen Wirtshäuser, in denen die Gäste ihre Speisen in bunter Reihenfolge auf sogenannten Fächerschüsseln serviert bekamen. Während man in der Wirtsstube aß und trank, agierten auf der Bühne Akteure aller Gattungen der Kleinkunst: Karikaturisten, Schnelldichter, Grotesktänzer, Klavierakrobaten, Bänkelsänger, Magiere und Rezitatoren.

Kurt Tucholsky, satirische Wortschleuder wider den wilhelminischen Ungeist, machte seinen Landsleuten das welsche Wort Cabaret dann zumindest phonetisch verständlicher. Den ersten Buchstaben änderte er um, dem letzten fügte er einen hinzu. Kabarett heißt es seither bei uns.

Mit der Auflösung des Dritten Reiches parzellierte man auch das Kabarett in einzelne Gattungen. Der einstige Oberbegriff kleinster theatralischer Darbietung machte sich selbstständig. Unter der Bezeichnung Kabarett firmierten mit dem Beginn der fünfziger Jahre ausschließlich Einzeldarsteller oder Gruppen, die ihre Wortgeschosse gegen die Wirtschaftswunderobrigkeit meist von eigenen Brettl-Bühnen abfeuerten.

Der im Zug zunehmender Politisierung Liedermacher getaufte Chansonnier ging ins Freie. Mit der gesamten Folk-Bewegung im Schlepptau zogen die selbsternannten Nachfolger des Barden François Villon gen Burg Waldeck im Hunsrück. Wer Anfang der sechziger Jahre was zu sagen hatte, sang es meist. Wollte aber jemand minnesingen, hatte er entweder vor der Studentenbewegung zu kapitulieren oder mußte es privat tun. Auftrittsmöglichkeiten für Feuerschlucker oder -speier gab es allenfalls bei den häufigen Demonstrationen.

Bald waren auch die mittlerweile klassisch gewordenen Kabarett-Ensembles vom Absterben bedroht. Schuld hatte die Sozial-Liberale Koalition. Manche einst heißgeliebte Satire-Truppe teilte dann mit der Partei, die sie rund 20 Jahre angegangen war, die Oppositionsbank. Einige überlebende Kabarettisten suchten Schutz bei den subventionierten Musen. Manch einer grub alte Texte aus, klebte sie mit Musik zu einer Revue zusammen und nannte es wieder Cabaret.

Der Virus Kleinkunst infizierte das sogenannte breite Publikum via Theaterabonnement. Kaum eine Stadt in der Bundesrepublik, in der heute nicht mindestens eine, meist gar mehrere dieser Brettl-Bühnen mit allabendlichem Spektakel stehen: in Kellergewölben, nicht mehr gewerblich genutzten Lagerhallen, pleite gegangenen Kinos, ehemaligen Wirtshäusern oder aufgelassenen Fabrikhallen.

Überhaupt steht die Fabrik als Synonym für die Bretter der kleinen Künste. Als das 1971 gegründete gleichnamige Hamburger Kommunikationszentrum im Februar bis auf die Grundmauern niederbrannte und dann für insgesamt 3,6 Millionen Mark wieder aufgebaut wurde, bekam die Kleinkunst im ganzen Land gewaltig Aufschwung.

Der weihevollen Künsten Oper und Schauspiel überdrüssig, pilgerte das Volk zum Tingeltangel. Kaum ein Hinterhof, Dorfgasthaus oder einstige Reparaturwerkstätte, die nicht geeignet schienen für kabarettistische Aktivitäten. Viele Schauspieler sprengten den einengenden Panzer eines Engagements an einem Stadttheater und spielten sich vogelfrei.

Am höchsten im Kurs steht bei den Rezitatoren, Liedermachern, Musiktheatergruppen, Blödelbarden und sonstigen Kleinkünstlern das Mainzer Unterhaus. Dort nämlich wird seit 1972 der mit 10.000 Mark dotierte Deutsche Kleinkunstpreis alljährlich verliehen. Unweit des Mekkas der Kleinkunst befindet sich auch das deutsche Kabarettarchiv.

Der bestbesetzte Tingelplatz ist die Stadt, die zwar 50 Millionen für die Nationaloper nicht weiter diskutiert, bei dem Subventionssümmchen von 8.000 Mark für ein Freßtheater aber Bedenken hat. So wird in München Kabarett an rund 15 Kleinkunstbühnen gespielt. Das Spektrum reicht von der Nachtigall von Ramersdorf bis zum «fetzigen» Rockmusical im Marienkäfer.

Doch auch in den anderen Metropolen hat die Kleinkunst Konjunktur. Ein Trend aber ist unverkennbar: Die Kleinkunst hat die (Groß-)Stadtflucht angetreten. Der Blödelbarde, Liedermacher, Rezitator liebreizender oder politischer Gedichte und auch der Magier verachten die Provinz nicht mehr. Das kulturell nicht eben überfütterte Provinzpublikum ist applausfreudiger und häufig auch kritischer.

Die Kleinkunsttempel heißen Litfaß (Freiburg), Blaue Maus (Saarbrücken), Manufaktur (Schorndorf bei Stuttgart), CirCus (Gammelsdorf bei Moosburg in Oberbayern) oder tragen einfach die Namen der Wirtshäuser, in denen Multi-Media-Programme ablaufen, wie die Goldene Krone in Darmstadt. Im Südostzipfel der Bundesrepublik hat die Erzdiözese Passau ihre ärgsten Widersacher in den Kabarettisten Bruno Jonas und Siegfried Zimmerschied, deren ‹Hausbrettl› das sowohl vom Programm her als auch architektonisch attraktive Scharfrichterhaus ist. Am skurrilsten geht es am Stadtrand von Bremerhaven zu. Alle Jahre wieder im Herbst räumt der Beamte Uwe Heidtmann Diele und Wohnzimmer seines Einfamilienhauses aus und reiht Gäste samt Kunst um den Kamin. Im KuK geschieht dann das, was Monsieur Salis 1881 realisieren wollte: die Einheit von körperlichem und geistigem Wohlbefinden, genannt Kleinkunst.


Badische Zeitung, Freiburg, Magazin, 4./5. Juli 1981, S. 2
 
Di, 14.09.2010 |  link | (2851) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Detlef Bluemler






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