Lob der Torheit

Zu Daniel Golemans Buch Emotionale Intelligenz

1859 veröffentlichte Darwin sein Buch Origin of Species. Im selben Jahr übrigens entstand die Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx. (Das Kommunistische Manifest war da schon elf Jahre alt.) Noch früher, 1840, erschien der zweite Teil von Alexis de Tocquevilles Buch Über die Demokratie in Amerika. Bezüglich des Erscheinens von Darwins Werk meinten die Historiker Samuel Eliot Morison und Henry Steele Commager: «Im Jahre 1860 glaubte fast jeder Amerikaner an den Wortlaut der biblischen Schöpfungsgeschichte und war der Ansicht, daß die einzelnen Geschöpfe von Gott zum besonderen Vorteil des Menschen erschaffen worden seien.» Das habe sich durch Darwin geändert. Es sei ein neues geistiges Klima geschaffen worden mit schwerwiegenden Folgen für Rechtswesen, Geschichte, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie, Philosophie, Religion und nicht zuletzt Kunst.

Eine neue Richtung der Philosophie bildete sich in der Nachfolge Darwinscher Theorien heraus, die als Pragmatismus bekannt wurde, an Namen kann man Charles Peirce, William James oder John Dewey nennen. Ein Kritiker des Pragmatismus, ein Europäer, genauer gesagt ein Italiener, erklärte, der Pragmatismus sei weniger eine Philosophie als eher eine Methode, mit deren Hilfe man ohne Philosophie auskommen könne. Für die Pragmatiker gibt es keine absolute Wahrheit, sondern nur eine relative, die abhängig ist von den jeweiligen gesellschaftlichen und persönlichen Umständen. Das bedeutet eine radikale Abkehr vom Idealismus mitteleuropäischer Prägung. «Die Pragmatiker betrachteten unsere Welt als etwas Werdendes. Sie beugten sich völlig unter die aus der organischen Evolution zu ziehenden Folgerungen und wandten sie auf Moral und Geistesleben sowie auf die sozialen Einrichtungen an. Wenn sie gefragt wurden, ob eine Handlung recht oder unrecht, eine Institution gut oder schlecht sei, so verwiesen sie nicht auf irgendeinen abstrakten Maßstab zur Beurteilung dieser Frage, sondern wandten ihre Aufmerksamkeit den Folgen zu.» — so Morison und Commager.

Der Einfluß des Pragmatismus ist nicht zu überschätzen. Er hat sich mittlerweile weltweit und nahezu konkurrenzlos durchgesetzt. Eines seiner Krebsgeschwüre nennt sich Postmoderne und propagiert affirmatives Verhalten und erfolgsorientierten Individualismus, der als Pluralismus getarnt wird. Die Lehren der Postmodernen sind leicht zu begreifen und deshalb allgemein beliebt. Der Darwinismus ist zum Sozialdarwinismus verkommen, den Pragmatikern haben sich die Psychologen hinzugesellt, und schon haben wir einige schöne neue Probleme, die sich mittels praktischer Ratgeber in Buchform bestens vermarkten lassen.

Ein Phänomen wurde noch vergessen. Es heißt Political Correctness, abgekürzt PC, und wendet sich, um ein signifikantes und damit ausreichendes Beispiel zu geben, gegen Mark Twain, weil dieser in Huckleberry Finn farbige Afroamerikaner als nigger beschimpft habe. Es wird erwogen, eine gereinigte Fassung herzustellen.

Wenn wir nun alle diese Zutaten (außer dem Zyniker Marx und dem Analytiker Tocqueville natürlich, die von mir eigenmächtig und nur zu Vergleichszwecken in den Zusammenhang gebracht wurden) in einen Topf werfen, gut umrühren, den ganzen Brei auf geistiger Sparflamme nicht zu stark erhitzen, dann erhalten wir einen schalen Abklatsch mehrerer einst wohlschmeckender Gerichte, gewürzt mit einer Prise Denunziation. Gerade diese Würze ist es, die dem Brei ganz pragmatisch eine meß- beziehungsweise zählbare Akzeptanz verschafft.

Der Brei nennt sich emotionale Intelligenz, die Würze verdient es, in ein paar Beispielen vorgestellt zu werden: «Woran liegt es beispielsweise, wenn Menschen mit einem hohen IQ straucheln und solche mit einem bescheidenen IQ überraschend erfolgreich sind?» (S. 12), «… daß soziale Intelligenz sich von den akademischen Fähigkeiten unterscheidet und wichtig dafür ist, daß man in den praktischen Dingen des Lebens gut zurechtkommt». (S. 64) «Cecil war ohne Zweifel ein heller Kopf; er hatte Fremdsprachen studiert und war ein vorzüglicher Übersetzer. Doch in manch entscheidender Hinsicht war er vollständig untüchtig. Es schien, als gingen Cecil die einfachsten sozialen Fähigkeiten ab [...]. Weil der Mangel an gesellschaftlichen Manieren sich am stärksten in Gegenwart von Frauen bemerkbar machte, kam Cecil in die Therapie [...].» (S. 156) Achtung Fremdsprachenstudenten, Achtung Übersetzer! Arbeitet an eurer «emotionalen Brillianz» (S. 161), sonst bekommt ihr nie eine Frau! Intelligenz ist nicht alles!

«Information reicht nicht aus» (S. 324) behauptet Daniel Goleman, so nämlich heißt der Autor des Buches mit dem Titel Emotionale Intelligenz. Das heißt aber nicht, daß man sie — die Information — nicht braucht. Da geht es dem Autor so ähnlich wie mit der Intelligenz. Den Sinnspruch Erkenne dich selbst bezeichnet er als eine Ermahnung des Sokrates. Hätte der Autor aber jemals einen der platonischen Dialoge gelesen, dann hätte es ihm vermutlich vor rationaler und logischer Intelligenz in Verbindung mit zutiefst menschlichen Anliegen im Kopfe geschwurbelt. Aber «Erkenne dich selbst», das hat nicht Sokrates gesagt, das stand vielmehr am Eingang zum Apollo-Tempel in Delphi, wo sich bekanntlich ein Orakel befand.

Und ein Orakel, das möchte der Autor schließlich auch sein. Er arbeitet mit der Technik des Kettenbriefs: Wenn du das und das nicht tust, dann wird dir Schlimmes widerfahren, es soll sogar schon Leute gegeben haben, die dann gestorben sind!. Wer nicht positiv denkt, dem wird ein höheres Todesrisiko bescheinigt. Wenn ein Unternehmen seine «kollektive emotionale Intelligenz» (S. 209) nicht steigere, dann werde es nicht nur nicht erfolgreich sein, sondern es könne gar das Überleben der Firma gefährdet sein. Und da offensichtlich rationale Intelligenz in den Vorstandsetagen großer Konzerne genauso rar ist wie rudimentäre Menschenkenntnis, versuchen sie es tatsächlich mit Golemans Methode. Laut Spiegel-Interview hat bereits ein großer internationaler Telephonkonzern Goleman um Rat gefragt.

Wenn gesagt wurde, daß die Pragmatiker ihre Aufmerksamkeit den Folgen von Ereignissen zuwenden, so besteht ein besonderer Trick darin, die Ereignisse nur zu behaupten und nicht zu belegen beziehungsweise aus Folgen Ereignisse einfach zu konstruieren. Zum Beispiel: Tragen Teenager ständig Waffen bei sich? Goleman: «Diese Teenager sind die erste Generation, die sich ohne weiteres nicht nur einfache Waffen, sondern automatische Waffen beschaffen kann, so wie die Generation ihrer Eltern die erste war, die allgemeinen Zugang zu Drogen hatte. Die Tatsache, daß Teenager ständig Waffen bei sich tragen, hat zur Folge, daß Meinungsverschiedenheiten, die früher zu Faustkämpfen geführt hätten, leicht in Schießereien enden können.» (S. 358) Haben Sie den Trick bemerkt? Zuerst behauptet der Autor (ohne Beleg), daß sich Teenager jederzeit automatische Waffen besorgen könnten, untermauert durch einen hinkenden Vergleich. Im nächsten Satz ist es bereits eine Tatsache, daß alle Teenager ständig Waffen bei sich trügen.

Genug der Beispiele. An einer Stelle zitiert Goleman ausgerechnet Erasmus von Rotterdam und zwar ausgerechnet Das Lob der Torheit. Es geht in dieser Stelle um, wie Goleman es ausdrückt, «diese ewige Spannung zwischen Vernunft und Emotion» (S. 26). Mehr Leidenschaft als Vernunft habe Jupiter den Menschen gegeben, ließ Erasmus die Dummheit sagen, und zwar aus dem Grunde, damit das menschliche Leben nicht völlig traurig und finster würde. Den nächsten Satz hat Goleman wohlweislich ausgelassen. Wir tragen ihn, gewissermaßen als Service für den Leser, nach: «Außerdem hat er (gemeint ist Jupiter; der Verf.) die Vernunft in einen Winkel des Kopfes verbannt und überließ den ganzen übrigen Körper der Verwirrung.» Um diese Verwirrung geht es Goleman. Die hat jeder, ganz im Gegensatz zur Vernunft: Schlau kann schließlich, so eine Kapitelüberschrift, dumm sein. Was brauche ich Intelligenz, wenn ich Gefühle habe!

Zum Abschluß dieser kurzen Bemerkungen wollen auch wir Erasmus von Rotterdam, den aufgeklärten Humanisten par excellence, noch zu Wort kommen lassen. Er äußert sich auch übers Bücherschreiben. Es spricht, das darf man nicht vergessen, die Torheit: «Wieviel besser hat es der Schriftsteller meines Zeichens in seinem Wahn. Ohne große Vorarbeit schreibt er, was ihm gerade einfällt und unter die Feder kommt. Seine Hirngespinste setzt er gleich in Buchstaben um und hat nur wenig Scheu vor dem Druck. Er weiß, daß der größte Unfug von den meisten, das heißt von allen Dummen und Ungebildeten anerkannt wird. Was macht es schon aus, daß drei gebildete Männer, die es doch noch gelesen haben, verächtlich die Achsel zucken? Was wiegt schon die Stimme der paar Klugen gegen einen solchen Haufen?»

Ivo Kranzfelder


Laubacher Feuilleton 19.1996, S. 13
 
Mo, 11.01.2010 |  link | (1841) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftliches






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