Benimm in Japan

Visitenkarten — ohne sie ist man in Japan ein Nichts. Auf ihr stehen der Name der Firma und der Titel. Ohne diese Informationen gerät in Japan jede Begrüßungszeremonie durcheinander. Ohne diese Informationen weiß niemand, wie tief er sich zu verbeugen hat. Denn Länge und Tiefe der Verbeugung werden festgelegt durch die soziale Rangordnung. Es verbeugen sich länger und tiefer: der Hauptabteilungsleiter vor dem Präsiden, der Angestellte einer kleinen Firma vor dem gleichrangigen Angestellten eines großen Unternehmens, der Jüngere vor dem Älteren, der Untergebene vor dem Vorgesetzten, der Verkäufer vor dem Kunden. Für das Personal in den großen Kaufhäusern gibt es Verbeugungsautomaten: mit ihnen trainieren die Verkäufer die korrekten Winkelstellungen des Oberkörpers.

Männer legen beim Verbeugen ihre Hände an die Oberschenkel. Für Frauen ist es komplizierter. Sie legen die eine Hand über die andere und beide dann zu einem Dreieck verbunden zwischen die Oberschenkel. Abschiedsszenen können lang dauern: sie sind in der Regel mit mehreren Verbeugungen verbunden. Unsicherheit taucht immer dann auf, wenn sich die Gegenüber noch nicht kennen. Während der Verbeugung beobachtet man sich dann aus dem Augenwinkel — Dauer und Tiefe der Verbeugung werden aufeinander abgestimmt, keiner möchte einen Affront riskieren durch eine zu kurze oder zu flache Verbeugung. Solche Unsicherheiten werden in der Regel vermieden. Denn: beim ersten Kennenlernen werden die Visitenkarten ausgetauscht und sorgfältig gelesen, meistens begleitet von einem höflichen bewundernden Zischen, zwischen den Zähnen hindurch. Danach ist klar: der Hauptabteilungsleiter muß sich tief nach unten bücken, während der Präsident mit einer leichten Neigung des Kopfes die Verbeugung nur andeutet.

Für Ausländer birgt dieses Zeremoniell zahlreiche Fehlerquellen: meistens haben sie zu wenig eigene Visitenkarten dabei, wenn sie nach Japan kommen. Auf jeden Fall reisen sie mit vielen Visitenkarten ihrer japanischen Gesprächspartner wieder ab. Wenn ein nichts ahnender Ausländer die Visitenkarte nur mit einer Hand entgegennimmt und achtlos wegsteckt, ist das eine Mißachtung seines Gegenüber. Außerdem bleibt dann nicht genug Zeit für das bewundernde Zischen. Wichtig ist es deshalb, die Visitenkarte mit beiden Händen entgegen zu nehmen, sie sorgfältig anzuschauen, selbst wenn man die japanischen Schriftzeichen nicht lesen kann. Die Verbeugung ist dann nicht mehr ganz so wichtig. Hier sind die Japaner inzwischen zu Kompromissen bereit — immer mehr strecken dem unerfahrenen Ausländer die Hand entgegen, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen.

Jens Peter Marquardt
ARD-Hörfunk-Korrespondent in Tokyo von 1991 bis 1996


Laubacher Feuilleton 15.1995, S. 16
 
Do, 06.08.2009 |  link | (1164) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftliches






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