Standhafte Stehtische Dies ist die Ode an eine Form Münchner Gastlichkeit, wie sie fast verspielt und wieder (ein wenig) gerettet wurde. Es begab sich einmal — zehn, zwölf Jahre ist es her —, daß diverse Kaffee-Ketten winzige Biotope, eher Kaffee-o-Tope, in ihren Läden einrichteten, dort, wo sie längst nicht mehr Bohnen, sondern Fahrräder, Pseudo-Edelgeschirr und Sweatshirts verkauften (Stichwort: ‹Diversifizierung›). Das Biotop war eine gelungene Überraschung: ein paar Stehtischchen, an denen man wie in Italien einen sehr passablen Espresso trinken konnte, und das auch noch zu einem Preis von einer Mark. Das Publikum ‹nahm's an›. Bald drängelten sich die Schlangen vor dem Tresen. An den Stehtischen entstanden Mini-‹Kommunikationszentren›, ganz ohne staatliche Subvention. Die Ketten-Bosse erkannten die hochwallende Nachfrage und ließen die Preise steigen: bis auf 1,80 Mark — was aber immer noch halb so teuer war wie in den ‹richtigen› Cafés. Dann aber drängelten sich die Finanzexperten nach vorne, berechneten den Espresso-Umsatz, setzten ihn ins Verhältnis zu den Mietpreisen pro Quadratmeter und forderten Buße. Man könne doch pro Quadratmeter viel mehr umsetzen, wenn anstelle der Heißgetränke noch mehr Elektro-Wecker, Hemden und CD-Spieler verkauft würden. Und so mußte ein Soziotop nach dem anderen weichen. Nix da, Gastlichkeit. Umsatz- und Profitmaximierung mußten her — wie bei der Sport-Scheck-Alm, wo die Rollerblades die Röschti vertrieben haben. Und deshalb wollen wir ein Loblied auf den Tschibo-Laden in der Sendlinger Straße anstimmen. Der verkauft zwar neben den Kaffeebohnen auch lauter Pseudo-Edles, aber die Stehtische stehen trotzdem noch. Und nicht nur das. Vergangene Woche senkte er den Espresso-Preis von 1,80 auf 1,50 Mark. Dies ist in dreifacher Hinsicht zu loben. Erstens liegt dieser Preis nur 50 Prozent über dem von der Via Arenula in Rom, was so manche Reise in den tiefen Süden erspart. Zweitens ist das konjunkturgemäß: sinkende Preise bei sinkendem Wohlstand; das kurbelt die Nachfrage an und damit wieder die Konjunktur. Aber drittens ist dies ein Fanfarenstoß für Gastlichkeit, Lebensqualität und Koffein-Genuß. Koffein-Genuß? Ja, das ist politisch fast so unkorrekt wie Tabak. Aber für unsere geschätzten Leser ist dies dennoch ein Gewinn, weiß man doch, daß kein vernünftiger Journalist irgendetwas ohne Kaffee in den Computer hauen kann. Hinter dieser Kolumne stehen drei Tassen Espresso. Ohne die klugen Soziotop-Verteidiger in der Sendlinger Straße wäre sie nicht geschrieben worden. Josef Joffe Laubacher Feuilleton 18.1996, S. 4; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors aus: Süddeutsche Zeitung Nr. 65, Lokal- und Bayernteil, 18. März 1996, Seite 33
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