Neuschnee für junge Leser

Heftkritik: Gazette 10

Vorab: GAZETTE ist nicht (Text-)Wüste, sondern gehört zu den letzten, vom Untergang bedrohten Inseln im Warholschen Ocean des «Anything goes»: noch einen drauf auf das Alles-Machbare, Bild-Schirm-Text-Ver(w)irrung, ständiges virtuelles Gewusel, das häufig wirkt wie seine Urheber nach einer Alkopop-Party, bei der die Entdeckung des Ornaments oder des Weinständers von Duchamp gefeiert wurde. Doch das Ornament als Informationsträger ist längst vom Wurm der Zeitläufte aufgefressen und der Weinständer (Kunst-)Geschichte; beides feiert allenfalls als Dekoration fröhliche Urständ'. Durch deren buntes Gefieder ist eben Tucholskys farbiges Diktum gehuscht, aus dem hervorgeht, alles sei bereits einmal dagewesen: »Es gibt keinen Neuschnee!«

Türkei: Ertragreiches hat der Text nicht zutage gefördert. Wer aufmerksam das Geschehen verfolgt, nicht nur ‹Die Zeit› oder die Münchner ‹Abendzeitung› liest, nicht alleine bei ‹arte› nach Bewegendem schaut oder ‹Klassik-Radio› lauscht, dem dürften die türkischen Verhältnisse geläufig sein; die seit langem andauernde Diskussion über den EU-Beitritt war und ist ja Anlaß genug.

Ähnliches gilt auch für den China-Artikel. Denn seit der Sinologe nicht mehr Taxi-Fahrgäste oder Coca- bzw. Pepsi Cola herumkutschieren muß, mittlerweile nicht mehr in dreißig Semestern seinen Doktor macht, sondern einen viersemestrigen Masterstudiengang absolviert, weil ihm zur Zeit jeder (deutsche) mittelständische Betrieb auflauert — seitdem interessiert sich der Globus für ihn. Doch gerade deshalb sind die Gazetten anderen Namens oder haben wir die Kanäle davon voll.

Auch von diesem: «Der Markt ist Gott geworden. [...] Der neue Gott hat seine Tempel, seine Kirchen, und jeder weiß, die Banken haben längst die anderen Gotteshäuser in ihrer architektonischen Präsenz überragt.» Ebendrum! Solches war schon vor fünfzehn oder zwanzig Jahren bei José Bové oder Pierre Bourdieu oder anderen zu lesen. Und bereits vor bald vier Jahrzehnten haben wir versucht, die Baukräne als die neuen Kirchen niederzubeten. — Zudem quillt das Netz über mit Hinweisen auf den Kapitalismus als (neuer) Religion, die sich heute lediglich anders nennt: Neoliberalismus. Oder sucht der GAZETTE-Leser — als humanistisch gebildeter Mensch — nicht im Internet und glotzt auch nicht TeVau?

«Bullshit ist immer dann unvermeidbar, wenn die Umstände Menschen dazu zwingen, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstehen», so Harry G. Frankfurt punktgenau in den ‹Fundsachen›.

Apropos: ‹Die gute Hausfrau anno 1955›. Damit ist doch allenfalls ein Zweiundwanzigjähriger wie unser Sohnemann zu beglücken. Ihm hatte ich den Text einzuscannen, weil er ihn seiner Freundin vorwedeln wollte. Die Generation des tiefergelegten Witzes lacht darüber, auch, da sie diese Schrecklichkeiten anno 1955 nicht kennt — oder aber sie genau das sind, was sie vorgelebt bekommt, da sich nicht wirklich viel geändert hat.

«Der Retro-Look weckt Sehnsüchte nach der Vergangenheit», so manifestiert's bereits der ‹Spiegel›. Und deshalb kommt der Verdacht auf, auch GAZETTE möchte klammheimlich diese ganzen Flintenweiber wieder hinter den Herd geschrieben haben. Sie selbst darf das ja nicht. Deshalb verbrämt sie's Blatt mit einer solch ollen Kamelle, Niveau ‹Funkuhr› (gehört zu unserem Haushalt). — Nein! Die würde sich so etwas nachzudrucken gar nicht getrauen. Und für BILD wäre der Text viel zu lang.

Ein Positives hat er ja, des Sohnes Griff (aus dem Fach mit Lesestoff, der von anderen bewältigt werden möchte) nach GAZETTE — und nicht, wie früher, der zum ‹Hahnheider Landboten› mit seinen Feuerwehr-Nachrichten. Er stellt mittlerweile Fragen, die über die ‹gute Hausfrau› hinausgehen.

Etwa über ‹Geheimdienste›. Da konnte, wegen unzureichendem Wissen, sogar der Alte verblüfft nichts Ergänzendes hinzufügen. Oder, da der Sohn Gitarre spielt, auf ‹Musik in Syrien›. So hat der der Levante einigermaßen Kundige diesen Text dann auch gelesen — erstaunt über diese Detailkenntnisse! Und der Aktualität wegen ist der Anti-Fan dann Per Leos Aufforderung nachgekommen: «... informieren Sie sich über Fußball.» Die Lust aufs Millionenspiel hat's zwar nicht gesteigert, dafür die am Text befriedigt.

Also auch GAZETTE in den großen Korb mit alldem, das irgendwann gelesen werden möchte. Doch es könnte sein, daß Menschen mit einem anderen «Zeitkonto» — wie Elisabeth Jändl in der GAZETTE-Sommerkritik treffend anmerkte — zugreifen. Dann hätte GAZETTE zumindest einen (jungen) Leser erobert.


Gazette 11/2006
 
Mo, 20.12.2010 |  link | (2173) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Detlef Bluemler






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Letzte Aktualisierung: 05.12.2013, 18:31



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