Baltische Vergangenheit

Brief aus Tallinn

Mein Lieber,
entgegen meiner ansonsten sparsamen Art vernichte ich die ersten eineinhalb Lagen des Toilettenpapiers, seit sich weltweit diese Unsitte eingebürgert hat, daß Blatt eins der neuen Rolle vom Roomservice der ‹guten› Hotels manuell — wie auch sonst? — durch je einen Falz links und rechts spitz zulaufend markiert wird. Wie entsteht solch ein globaler Standard?

Recherchiere selbst, wenn Du willst, bastle Deine eigenen Theorien, und lass' mich ein wenig von einer Ausnahme erzählen, dem etwas anderen Hotel: Hotel Melluzi in Jurmala, nahe Riga, in Lettland, mit Platz für gut hundert Gäste. Manche der Zimmer im Melluzi haben Klavier, und im Untergeschoß wartet ein Konzertsaal. Konferenz- und kleinere Sitzungsräume sind ebenso vorhanden wie Billardzimmer, Sauna, Bars, ein ‹Indoor-Pool› im Tiefgeschoß, zwei große Bassins draußen, und nur vier Minuten zu Fuß ist es zum wunderschönen, mal mild, mal wild bewachsenen Dünenstrand am Mare Balticum. Hier hatten traditionell die verdienten Staatskünstler aus dem Musikfach ihren Ort für Muse, Erholung, Übung und Austausch — ohne Plantschbecken und Kinderstühlchen. Die Genies blieben schöpferisch unter sich. Leistung pur wurde gefördert.

Heute, privatisiert, steht das Haus offen für alle, stechen mehr als andere die Unzulänglichkeiten ins Auge. Damals hingegen, flexibel Mängel antizipierend, bot dem Gast allein die Tatsache des Vorhandenseins von, sagen wir: Hygienepapier Anlaß zur Freude. Wir aber mosern, meckern, stöhnen, weil die Vorrichtung für obige Klopapierrolle — gleich höre ich auf mit Details dieser Art — noch immer hängt, wo sie ursprünglich angebracht worden war — haargenau hinter dem potentiellen Nutzer, halb verdeckt vom von der Wand abgesetzten Spülkasten: ergonomisch katastrophal, ohne ärglichen Positionswechsel unmöglich zu erreichen. Und ebenso unmöglich ist eigentlich der gesamte Service im Melluzi.

Eigentlich, sage ich, denn es geht auch anders, nämlich dann, wenn der Gast mit Geduld und Einfühlungsvermögen, sanft im Ton, aber bestimmt, eindeutig und klar in der Sache sagt, was er will. Die Wiederholung der Zeremonie am nächsten Tag kann nötig, manchmal aber auch schädlich sein, denn das Personal, einschließlich Managment, in diesem Hotel gehört, zumindest mental, noch zum alten Regime. Es gehört zugleich zu den russischen Minderheiten in Lettland — rund 30 Prozent von 2,5 Millionen Einwohnern.

In puncto Service hat im Melluzi die Privatisierung nicht viel verändert. Allerdings gibt es zwischenzeitlich hie und da Versuche der Modernisierung im Hause. Haltet ein! hätte ich den Leuten zurufen sollen. Laßt den Laden, wie er ist: ein bewohnbares Museum, ein offenes Buch zur haptisch sinnenhaften Anschauung sowohl für Nostalgiker des Sozialismus als auch für dessen beträchtlich gewachsene Anzahl an Kritikern. Eine enorme Marktlücke ist, wäre das. Und wer dann genug hat vom Schwärmen respektive Schimpfen, geht einfach hinaus durch die quietschenden Glasflügeltüren — nach Jurmela.

Jurmela, nach Erzählungen und alten Photographien, ist anmutig schön gewesen — und fast schon wieder geworden, obwohl die nach der Unabhängigkeit von 1991 an die Alteigentümer zurückgegebenen Sommerhäuser in ihren tiefen, grünen Gärten zunächst einmal vernagelt wurden. Möglichst schnell sollte auf Betreiben des Nachwuchses der Vorkriegsgeneration Schluß sein mit dem Alten. Jurmela ging in den Ausverkauf, wurde eingetauscht gegen den Herzenswunsch, einen westlichen Mittelklassewagen, leider nur gebraucht. Aber schon die nächste Eigentümerwelle hat wieder Zeit für die Freizeit, Liebe fürs Traditionelle und ordentlich Geld, um die Holzpracht aus Erkern und Türmchen, Veranden und Sprossenfenstern wieder auferstehen zu lassen. Woher das Geld dazu kommt? Wie früher! Aus der Tiefes des Raumes.

Einen kleinen Blick in den Raum, wie er war, gibt das Verzeichnis der Poststationen, das ich dem ‹Revalschen Kalender auf das Jahr nach Christi Geburt 1853, welches 365 Tage hat› entnehme. Von Riga nordwärts sind es zwanzig Werste bis Rodenpois, dreiundzwanzig bis Engelhardshoff und so weiter über Roop, Lenzenhoff, Wolmar, bis die nächstgrößere Stadt, Pernau, nach zweihundervierunddreißig ein Viertel Wersten erreicht ist. Bis Reval kommen weitere einhundertsechsunddreißig ein Viertel Werste hinzu. Und dann, zweihundertsiebzehn und ein Halber weiter nach Osten, liegt Narva. Die Straße dorthin führt über Namen wie Jegelecht, Kahal, Loop, Hohenkreuz, Fockenhoff, Waiwara. Schließlich, nach weiteren einhundertzweiundvierzig Wersten, rollt die schnelle Kutsche in Sankt Petersburg ein. Im Vergleich zur heutigen Strecke hat sie dann umgerechnet weit über hundert Kilometer mehr zurückgelegt (ein Werst = eins Komma nullsechssieben Kilometer), offenbar weil die genannten Orte wichtig genug waren, um sie mit der Ferne zu verbinden.

Zweimal die Woche, Donnerstag und Sonntag, kamen die Posten aus St. Petersburg und Riga nach Reval, heute Tallinn, die Stadt, aus der ich Dir schreibe. Briefe von hier gingen regelmäßig in die Welt. Das Loth, rund 12 gr, kostete — wieder laut revalschem Kalender — zweiundzwanzig Kopeken nach ‹Preußen nebst den übrigen zum deutschen Bunde gehörenden Staaten, wie auch nach den Hanse=Städten Hamburg, Lübeck und Bremen›. Für Briefe in die Schweiz, nach Dänemark, in die Niederlande zahlte man um die dreißig, für Italien nur zehn, Constantinopel zweiundvierzig, in die englischen Besitzungen in Amerika dreiundachtzig drei Viertel Kopeken.

Die Orte, die wir soeben berührt haben, sind ein Bruchteil des Netzwerkes, das die baltischen Hansestädte zu Lande, über Straßen und Flüsse und weiter über Seen und Meere geknüpft hatten. Zugleich fand die Tiefe des Raumes in der Nähe statt, im Zickzack der Kutsche, und mehr noch, im Zusammenspiel verschiedener Kulturen: Russische Kopeke zahlt preußisches Loth, Pferde aus deutsch klingenden Orten legen Werste zurück. Und Feiertage, so sagt unser Kalender, ‹an welchen in sämtlichen Gerichtsbehörden keine Sitzungen gehalten und in den Schulen kein Unterricht ertheilt wird›, huldigen russisch-orthodoxer Herrschaft, gepaart mit christlichem Glauben. Beispiel April: ‹Den 16. Gründonnerstag. Den 17 Charfreitag. Geburtsfest Sr. Kaiserlichen Hoheit des Thronfolgers Cesarewitsch und Großfürsten Alexander Nicolajewitsch. Den 18. Sonnabend in der Marterwoche. Den 19. bis zum 25. die ganze Osterwoche. Den 23. Namensfest Ihrer Majestät, der Kaiserin Alexandra Feodorowna.›

Ich will nicht behaupten, daß die eingeborenen Völker im Baltikum den Mischmasch liebten. Unabhängig wurden sie erst im 20. Jahrhundert, von 1920 bis 1940 und neuerlich seit 1991. Vorher blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich an das Neben- und partielle Miteinander zu gewöhnen, seit im frühen 13. Jahrhundert der deutsche Schwertbrüderorden das baltische Heidenland christianisierte. Aber anders als zum Beispiel in Nord- und weiten Teilen Südamerikas blieben hier die verschiedenen Eroberungen, angefangen von den Deutschen, abgelöst von Dänen, Polen, Schweden und russischem Zarenreich, unvollständig. Natürlich waren die Kriege selbst komplett, voller Leid und Elend, aber den fremden Kriegern auf dem Fuße folgten eben nicht die (Bauern-)Massen. Die Balten, schlimm genug, blieben Untertanen und mußten wechselnden Fremdherrschern dienen. Aber immerhin, sie konnten bleiben, wo sie waren, und Elemente ihrer Kultur, insbesondere ihre Sprache, bewahren. Erst als die baltischen Staaten gezwungenermaßen Bestandteil der Sowjetunion wurden, begann eine wirklich rigorose Russifizierung.

Ähnlich ‹unvollständig› wie lange Zeit für die Einheimischen verlief die Geschichte auch für die Baltendeutschen. Sie blieben — oder kamen nach den ersten Wirren der verschiedenen Machtwechsel zurück, und auf ihre lokale und intellektuell-kulturelle Führung setzten letzlich auch die Zaren. Peter der Große hat die baltischen Provinzen als das russische Fenster zum Westen betrachtet. Es galt, den hier in den Osten vorgeschobenen Westen als Impulsgeber für Rußland zu nutzen. Die Deutschbalten mittendrin, waren das Verbindungsglied. Eines der Instrumente des Transfers mit Rußland war die weithin deutschsprachige Universität Dorpat, und als Ordnungselement wurden Teile des einmal eingeführten deutschen Rechtssystems weithin beibehalten. Zum Beispiel das von Lübeck kommende Lübische Stadtrecht wurde vor 750 Jahren in Reval eingeführt und erst 1940, mit der sowjetischen Okkupation, außer Kraft gesetzt.

Woher das Geld kommt, hatte ich oben gefragt und zum Anlaß genommen für eine kleine Reise in die baltische Vergangenheit. Die Zukunft von Estland, Lettland und Litauen liegt weiter in der Unvollständigkeit, daß die Völker nicht werden wie ihre westlichen oder östlichen Nachbarn und daß sie zugleich zwischen beiden vermitteln. Natürlich ist der Osten ziemlich out, das Vorbild West dominant. Schlank und nicht mehr wohlgenährt ist das Schönheitsideal. Abmagerungsclubs in Vilnius, Riga oder Tallinn fasten um die Wette, und statt Wodka kommt Johnnie ins Glas. Nach der Wende geblieben war zunächst einmal Staatseigentum, das die Leute ‹vergessen› hatten — wem auch? —, zurückzugeben und stattdessen als Grundstock für kapitalistische Übungen verwendeten. Edelmetalle, Hubschrauber, Fräs- und Zugmaschinen, Überlandkabel, Baumaterialien, Container voll mit Ersatzteilen von Russenlimousinen und Container als Container ... Der Handel kam wieder in Schwung, brachte Geld für Jurmela und andere Schönheiten, aber selbstverständlich auch für Zukunftsinvestitionen. Und was die neue Zeit nicht brauchen konnte, lagert und vergammelt in den Gärten. Nur nichts wegwerfen.

Der Kapitalismus als ehemals virtuelle Sensation, die per TV, via Finnland, über den Eisernen Vorhang kam, ist real geworden. Und trotz vieler Spannungen mit den Russen funktioniert das baltische Scharnier wieder recht ordentlich. Zum Wohle aller. Money talks, sprach neulich Minister Vare. Und während sein Parteifreund, der Abgeordnete Kubo, die Aktienkurse verfolgt, denkt er vielleicht an seinen kleinen Kartoffelacker, ohne den die Jahreszeiten unvollständig blieben. Ja, bleibt nur weiter ihr selbst. Gute Christen, die ihre Toten wie eh und je bei den Waldgeistern begraben

Rainer Willert


Kurzschrift 1.1999, S. 45 – 49
 
Mo, 09.08.2010 |  link | (1411) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Historisches






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