Über Thomas Mann und die deutsche Sprache

Bereits in einem der vorangegangenen Kapiteln habe ich behauptet, daß die einzige Person, die in einem Kunstwerk von Belang ist, der Künstler selbst sei, das gilt nicht zuletzt für den Schriftsteller. Die Hauptperson eines jeden Romans ist folglich der Verfasser selbst, der Erzähler. Manche von ihnen schlüpfen in die Rolle einer Person, die an Sprechwahn leidet, einer Art sprachlichem Durchfall. Viele bieten das Bild verkrampfter Psychopathen und geben ein mystifizierendes Gefasel von sich, das man fast nur noch mit Hilfe von psychoanalytischen Lehrbüchern verstehen kann. Andere wiederum haben die Leidenschaft, in Buchform über sich selbst und andere unentwegt Pornographisches zu verbreiten. Wieder andere erzählen, als stünden sie unter Drogeneinfluß, Geschichten von mehreren hundert Seiten Länge, oder sie sind hochgradig hysterisch.

Es ist hinlänglich bekannt, daß Dichter und Schriftsteller widerborstige Leser sind; sie fühlen die Last der Verpflichtung, ihre Kollgen mindestens ebenso schonungslos wie sich selbst zu kritisieren. Da ich nun, wenn auch nur ansatzweise, mein Verhältnis zur französischen und englischen Literatur dargestellt habe, so darf ich wohl auch nicht versäumen, meine Erfahrungen mit einem bemerkenswerten Meister ganz anderer Provenienz zu erwähnen, der nicht mehr und nicht weniger war als die Leitfigur der deutschen Literatur in der letzten Generation vor Brecht. Ich meine natürlich Thomas Mann. Als ich die Buddenbrooks in Los Angeles zum ersten Mal las, glaubte ich, all die Ansichten über die deutsche Literatur, zu denen ich mich auf Grund von Erfahrungen berechtigt fühlte, radikal korrigieren zu müssen. Unter dem Eindruck der unerwarteten Begeisterung, in die ich beim Lesen dieser Chronik verfiel, raffte ich mich dazu auf und las das meiste und Wichtigste von dem, was Thomas Mann bis dahin verfaßt hatte, doch — wie ich gestehen muß — mit mehr Bewunderung für seine allgemeine Intelligenz und Bildung als etwa mit überströmender Begeisterung für seine Dichterische Kraft, die zwar für eine Familienchronik wie die Buddenbrooks ausreichte, die aber offenbar nicht die notwendige Nahrung im deutschen literarischen Erbe fand, um einen solchen Autor zur poetischen Vollendung gelangen zu lassen. Thomas Manns zweites Hauptwerk zum damaligen Zeitpunkt, Der Zauberberg, von dem erzählt wurde, daß er zu seiner Abfassung 16 Jahre gebraucht habe, ertrinkt als Dichtung in dem alptraumhaften Übermaß von Philosophieren, das die Deutschen ruiniert und aus dem ihnen leider eine der Landplagen der Welt zu schaffen gelungen ist. Wenn die Deutschen am besten schreiben, so schreiben sie wie die Professoren; eben dieser professorale Stil ist es, der Thomas Mann als epischem Dichter zum Verhängnis wurde. Es ist schwer zu sagen, ob der Traditionsmangel der deutschen Erzählkunst in der Unvollkommenheit der deutschen Sprache wurzelt oder ob umgekehrt die Mängel der Sprache daher rühren, daß sie zu wenig der Erzählkunst angepaßt wurde. Eine deutsche Literatur wurde eigentlich nie recht geschaffen, es gibt auch keine entsprechende Tradition in früheren Zeiten, sondern lediglich hier und da in den Provinzen lokal begrenzte und durch lange Zeitabstände voneinander getrennte einzelne Ansätze; im 17. Jahrhundert hatten die Deutschen bereits so sehr resigniert, je eine eigenständige Literatur zu schaffen, daß sie begannen, auf französisch zu dichten. Schließlich unternahm man doch noch eine Anstrengung, zu einer für ganz Deutschland einheitlichen Schriftsprache zu gelangen. Vorher war ‹Deutsch› nur ein vager Sammelbegriff für einige volkstümliche Dialekte innerhalb des ‹Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation› gewesen. Der erwähnte Versuch hatte zur Folge, daß alles, was an Mundart erinnerte, ziemlich rigoros aus der Schriftsprache eliminiert, die ‹feine› Sprache dagegen aus der spezifischen Redeweise der schlechtgebildeten Adligen im östlichen Mitteldeutschland, aus der Kanzleisprache von Beamten und aus schulmeisterlichen Nachahmungen von Lateinübersetzungen zusammengebraut wurde.

Dieses farblos-sterile, steife und unvolkstümliche ‹Esperanto› der Deutschen, ihr Hochdeutsch, versucht in immer sich wiederholenden romantischen Anläufen vom 18. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart hinein, sich Bahn zu brechen zu etwas, was Ähnlichkeit mit volkstümlichem Ursprung hätte; entweder indem es sich zur Vorstellungswelt der Bauern und kleinen Handwerker zurückwendet oder indem es sich geistig durch die Exhumierung eines fiktiven Mittelalters zu inspirieren trachtet. So geschah es, daß die Werke romantischer Lyriker, von denen Heinrich Heine alle haushoch überragt, zu ‹hochdeutscher› Literatur wurden. Doch war die Romantik ihrem Wesen nach nie etwas vollkommen Echtes; vieles in ihr ist affektierte Sentimentalität, archaisierendes Epigonentum, Ossianismus, schwärmerische Begeisterung für den Landmann und die schöne Müllerin, für Handwerk und Mittelalter, für ‹Ferne›, grandios-bizarre Landschaft, einsame Klippen, die eher Widerstand gegen den Zeitgeist als dessen Ausdruck war. Deutsche Klassik hat es zu keiner Zeit gegeben; die Romantik war unter Wagner absurd geworden, verbrecherisch wurde sie unter Hitler.

Abgesehen von der Lyrik erscheint das zusammengeklitterte Deutsch als ein ungepflügter Acker. Es wird Erzählern wie Dramatikern zur Fessel und hat deutsche Genies zu Torfstechern degradiert. Einzelne große Werke wie die Buddenbrooks ändern nichts an dieser Tatsache, auch nicht das einmalige dramatische Schaffen Brechts, obwohl er als das wahre deutsche Wunder unserer Zeit zu bezeichnen ist. Sogar Goethe, den die Deutschen mit Gewalt vor sich selbst und der Welt hochgelobt haben, war nie etwas anderes als nur der Anlauf zu einer deutschen Klassik. Selbst ein Opus magnum, das Faust-Gedicht, das den Anschein erwecken will, als wäre es eine Art Drama, ist zum überwiegenden Teil nichts anderes als eine konformistische Schulmeisterdichtung, die sich, je weiter das Werk fortschreitet, in zusammenhanglose Wahnvorstellungen auflöst. Desungeachtet findet sich zweifellos in diesem Werk so manches bedeutende Stück kristallklarer Lyrik, die in einem Atem zu nennen ist mit der stattlichen Reihe Goethescher Gedichte, die unbestritten der Gipfel seines Schaffens sind.

Halldór Laxness

Laubacher Feuilleton 6.1993, S. 11
Aus: Halldór Laxness, Zeit zu schreiben. Ullstein Verlag, 1991, S. 47 – 50; mit freundlicher Genehmigung

 
Fr, 16.10.2009 |  link | (1684) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Schrift und Sprache






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