Büschelweise Haare in der Suppe

Als Fünfjährige mochte ich, wie die meisten meiner Altersgenossen, keine Suppen, Eintöpfe und Brühen wie jedwede Art von Flüssignahrung waren mir ein Graus. Breis, Crèmes, Puddings, Süßes und Klebriges durften es, obwohl auch gelöffelt, schon sein, aber glibberige Hühnerhaut, Ochsenschwänze oder Suppenfleisch mit Speckschwarte: nein danke.

Schließlich ist die Bezeichnung Bouillon schon im Krieg der Knöpfe ein Schimpfwort. (Wer will schon Hühnerbrüh heißen?) Feste, trockene und fein säuberlich getrennte Lebensmittel entsprechen offenbar mehr dem altersgemäßen Wunsch nach Differenzierung und Entwicklung. Dabei reproduziert das Kind hier recht anschaulich einen Ausschnitt Kulturgeschichte bzw. Zivilisationsprozeß.

«Zuerst wird die Suppe oft getrunken, sei es aus dem gemeinsamen Napf oder aus Kellen, die mehrere benutzen. In den courtoisen Schriften (courtoise als Inbegriff des gesellschaftsfähigen Verhaltens an den Höfen der größeren, ritterlichen Feudalherren im 13. Jahrhundert) wird vorgeschrieben, sich des Löffels zu bedienen:

mit der schüzzel man niht sufen soll,
mit einem lefel, daz stat wol
(Tannhäuser zugeschrieben).

Auch sie (die Löffel) werden zunächst mehreren gemeinsam gedient haben. Einen weiteren Schritt zeigt das Zitat von Calviac aus dem Jahre 1560. Er erwähnt, daß es unter Deutschen Brauch sei, jedem Tischgenossen seinen eigenen Löffel zu lassen. Den nächsten Schritt zeigt Antoine de Courtins Mitteilung aus dem Jahre 1672. «Man ißt jetzt nicht mehr die Suppe unmittelbar aus der gemeinsamen Schüssel, sondern schüttet sich etwas davon auf den eigenen Teller, und zwar zunächst mit dem eigenen Löffel. [...] Hier stellt sich Schritt für Schritt jene Art, die Suppe zu nehmen, her, die inzwischen selbstverständlich geworden ist: Jeder hat seinen eignen Teller, jeder seinen eigenen Löffel. Sie wird mit einem spezialisierten Gerät ausgeschenkt», beschreibt Norman Elias die Entwicklung und faßt weiterhin zusammen: «Nichts an den Verhaltensweisen bei Tisch ist schlechthin selbstverständlich, gleichsam als Produkt eines ‹natürlichen› Peinlichkeitsgefühls. Weder Löffel, noch Gabel, oder Serviette werden einfach wie ein technisches Gerät, mit klar erkennbarem Zweck und deutlicher Gebrauchsanweisung eines Tages von einem Einzelnen erfunden; sondern durch Jahrhunderte wird unmittelbar im gesellschaftlichen Verkehr und Gebrauch allmählich ihre Funktion umgrenzt, ihre Form gesucht und gefestigt. Jede noch so kleine Gewohnheit setzt sich unendlich langsam durch , selbst Verhaltensweisen, die uns ganz elementar erscheinen oder ganz einfach ‹vernünftig›, etwa der Brauch, Flüssiges nur mit dem Löffel zu nehmen; jeder Handgriff, die Art, in der man Messer, Löffel oder Gabel hält und bewegt, wird nicht anders als Schritt für Schritt standardisiert. Und auch der gesellschaftliche Mechanismus dieser Standardisierung zeichnet sich in Umrissen ab, wenn man die Bilderreihe als Ganzes überblickt: Es gibt einen mehr oder weniger begrenzten, höfischen Kreis, der die Modelle prägt, und zwar zunächst offenbar nur für die Bedürfnisse der eigenen, gesellschaftlichen Situation und entsprechend der Seelenlage, die dieser sozialen Lage entspricht.»

Für das Kind erzählt der Eßtisch aber nicht nur anthropologische Kuriositäten. Er ist vor allem Schauplatz bzw. Schlachtplatz der Erziehung. Mit der Suppe werden dem Sprößling zugleich Manieren und Machtverhältnisse eingeflößt. Schon mit dem ersten Süppchen soll es lernen zu essen, was auf den Tisch kommt, nicht so zu schlingen, nicht zu schlürfen und nicht so (vor Lust) zu schmatzen, nicht (mit vollem Mund) zu sprechen und dabei außerdem gerade zu sitzen sowie sich überhaupt endlich besser zu benehmen, kurz, den so erzeugten Widerstand, gleich ob in Richtung Maßlosigkeit oder Nahrungsverweigerung, schleunigst aufzugeben. Daß es aber wenig Verlockendes hat und beinahe einem Rückfall gleichkommt, nach Jahren meist unfreiwilliger, mühsamer Anstrengungen wieder auf den Löffel zurückgreifen zu müssen, da man doch froh ist, wie die elterlichen Vorbilder endlich mit Messer und Gabel zustechen zu können oder zu dürfen, sollte auch Erwachsenen einleuchten. Daß dem in den meisten Fällen nicht so ist, tut selbstverständlich nichts zur Sache.

Wie auch immer besorgte Eltern ihrem Nachwuchs die Flüssignahrung schmackhaft machen wollen, es scheint nicht verhindern zu können, daß dieser letztendlich doch noch auf den Geschmack kommt. In Zeiten verstärkter seelischer oder sich sonstwie äußernder Bedrängnis greift der Mensch neben anderen Sedativa auch gerne auf heiße, dampfende Suppen zurück, versucht er, die vermißte Wärme sozusagen aus der Suppe zu extrahieren. Wie sonst ließe sich erklären, daß ich mir am schuleigenen Getränkeautomaten statt Milch oder Limonade (Coca-Cola gab es natürlich nicht) lieber einen Becher salziger Gemüsebrühe zog und Menschen, die dieses Frühsymbol per se nicht anrühren, so rar sind.

Suppe und Löffel repräsentieren frühe Erfahrungen von wenn auch nicht immer überzeugend liebevoller Versorgung, so doch Befriedigung. Dabei spielt der Löffel als das «erste Bemächtigungsmittel der Welt» eine entscheidende Rolle. «Mit Messer, Gabel, Schere, Licht spielen kleine Kinder nicht.» Der Löffel aber ist das Werkzeug, das dem Kleinkind anvertraut wird, mit dem es erstmals nachhaltige Eingriffe tätigt, mit dem es sich quasi der Welt bemächtigt. Indem das Kind mit dem Löffel Dinge (wenn auch nur Speisebrocken) ungestraft verschwinden lassen kann (wenn auch nur im eigenen Mund), erlebt es Selbsteffizienz. Das verleiht dem Löffel eine hohe symbolische Bedeutung. Dazu ist die Rundung dieses Werkzeugs nicht nur in ergonomisch idaler Weise dem Mund und damit der nehmenden Funktion angepasst, seine Wölbung erinnert an die Innenseite des Handtellers, mit dem gegeben wird (den Arm als Stiel gedacht). Der Löffel suggeriert im Gegensatz zum Messer Geborgenheit und Gefühle des Aufgehobenseins wie in der Wiege oder im mütterlichen Schoß, versinnbildlicht die Idealvorstellung der Ausgewogenheit zwischen Geben und Nehmen. Unter der Prämisse ergibt es auch Sinn, ‹das große Fressen› im Kreise der Nächsten mit dem friedfertig-versöhnlichen Löffel zu beginnen; da sorgt sich der Schwager erst einmal weniger darum, daß ihm die Butter vom Brot genommen werden könnte und geht vielleicht nicht gleich mit dem Messer auf die anderen los.

All das macht den Löffel zum symphatischen Objekt aber auch zum Todessymbol. In Analogie zur Mahlzeit (die beim Nachtisch wieder mit dem Löffel endet), wird auch der Tod, das Ende der Ausdifferenzierung mit ihm in Verbindung gebracht: Wer sterben muß, ‹gibt den Löffel ab› und wer sich etwas eingebrockt hat, muß zurückgehen, um es wieder auszulöffeln. Das Löffeln von Suppe dient aber auch in der Regel, wenn nicht Armut oder Krankheit dazu zwingt, dem Reaktivierungsversuch früherer Glücksgefühle.

Die Suppe scheint stärker als andere Speisen für den Bauch als für den Gaumen bestimmt. Weniger Geschmackssensationen als leibliches Wohlbehagen soll sie erzeugen, wenn sich mit der Emulsion wonnige Wärme im Unterleib ausbreitet. «Weniger wegen ihres kräftigenden Nährwertes, der nach den neuesten Forschungen nicht sehr groß ist, als vielmehr um ihrer belebenden und appetitanregenden Wirkung [...] gibt man sie Appetitlosen und Rekonvaleszenten», heißt es in einem Kochbuch von 1985, und «sie (die Kraftbrühe, Boullion oder consommé) wirkt auf Magen und Nerven — wie guter Wein.» Die Suppe geht also ans Eingemachte, hat es auf Geist und Seele abgesehen — wie die Ochsenbrust auf die Muskelkraft oder die Auster auf die Libido — und rückt damit schon in die Nähe der Heilmittel.

Auch Arzneien, Hexen- und Zaubertränke werden ja wie Suppen mittels spezieller Rezepturen und Zutaten durch die chemische Prozedur des Verkochens hergestellt. (Eindrucksvolle Beispiele finden sich bei E.T.A. Hoffmanns Goldenem Topf.) Zur Suppe eingekocht scheinen Knochen, Wurzeln und Gewächse in der Lage, ozeanische Frühgefühle oder zumindest glückselige Gemütszustände herbeiführen zu können. Auf ‹Massenübereinkünften› wie dem Karneval wird die Seligkeit daher auch vorzugsweise durch Ausschank von relativ unhandlichen Erbsen- oder Gulaschsuppen induziert, obgleich hartgekochte Eier beispielsweise nicht weniger symbolträchtig und obendrein praktischer wären. Von Würstchen und Fritten immer noch unübertroffen scheint die Suppe die Regression am besten zu fördern.

Vermutlich ist sie wegen ihrer direkten Verbindung zum Bauch (sie muß ja nicht erst lange gekaut, sondern nur geschluckt werden) auch als Sinnbild des Unbewußten, des individuell Frühen und menschheitsgeschichtlichen Alten in das kollektive Unbewußte eingegangen; als möge man von Zeit zu Zeit von der Ursuppe nippen oder zumindest mit dem Löffel darin rühren.

Mehr als in allen anderen Nahrungsmitteln (Getränke gehören ja einer anderen Kategorie an) ist in ihr eine strukturelle Prädisposition für den Genuß sofort angelegt. In der Suppe liegt Magie.

Gabi Rauch

zur biographischen Notiz zur Autorin versagt leider die Erinnerung; geblieben ist die an ihre sowie der Galeristin freundliche Genehmigung zum Nachdruck aus: Suppenanstalt, Heft zur Aktion Dauerkarte. © Paszti-Bott-Galerie, Köln 1993

Laubacher Feuilleton 7.1993, S. 3

 
So, 11.10.2009 |  link | (1966) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gastrosophisches






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