Poesie der Musik

Unter allen morgenländischen Völkern übertrafen die Juden in der Tonkunst die übrigen weit. Sowohl in der Vokal- als Instrumentalmusik hatten sie sehr frühe schon große Meister oder, wie sie selbige nannten: Menatzeachs aufzuweisen, die wir in unserer Sprache Virtuosen nennen würden. Und wenn die Dichtkunst eines Volkes mit der Tonkunst immer gleichen Gang zu halten pflegt, so läßt sich schon daraus unwiderlegbar schließen, zu welcher Höhe die Musik bei den Juden gestiegen sein müsse. —

Lowth (De sacra poesi Hebraeorum)* hat zwar vieles von hebräischer Poesie gesagt, aber bei weitem nicht den tausendsten Teil, den der Kenner empfindet. In allen Gattungen der Dichtkunst waren die Hebräer Meister; da aber hier nur die lyrische in Betracht kommen kann, so läßt sich auch schon aus dieser auf die Vollkommenheit der hebräischen Musik schließen.

Wenn die Lieder, die in der Bibel stehen, ebenso vortrefflich in Musik gesetzt worden sind, wer kann ihnen heute noch etwas Vortrefflicheres entgegensetzen? Das Lied Mosis in der Wüste wurde gesungen und mit damaligen Instrumenten begleitet. Staunen würde vielleicht die Welt, wenn wir die Musik desselben mit seiner harmonischen Behandlung wüßten, so wie jeder Gefühlvolle über das Lied selbst staunt. Zur Zeit der Richter kam die Musik bei den Hebräern in Abnahme; hohen Schwung aber erhielt sie unter David und Salomon wieder. Die Zaubereien der Davidschen Harfe, die mancher Schwachkopf verspottet, sind jedem leicht erklärlich, der den Zauber der Verbindung zwischen Dichtkunst und Musik genau kennt. Ganz gewiß deklamierte David vor Saul große, herzeinschneidende Nationalbegebenheiten und begleitete sie mit einfachen Akkorden seiner Harfe. Nur daraus läßt sich die große Wirkung einigermaßen begreiflich machen, die einen rasenden Saul entfesseln konnte.

Unstreitig war David eben darum einer der größten Musiker, weil er die Zaubereien der Musik mit der Dichtkunst zu verbinden wußte. Doch erklomm erst zu Salomos Zeiten die hebräische Musik ihr Akme. Bei der Einweihung seines Tempels hatte er achttausend Sänger und zwölftausend Instrumentalisten; und der Geist dieses großen Monarchen ist uns Bürge, daß die Musik seinen übrigen Geschmack nicht verleugnet haben werde. Um uns einigermaßen einen Begriff davon zu machen, müssen wir uns den jetzigen Choralgesang vorstellen, so wie er von der Orgel, der schneidenden Zinke und dem Posaunenhall begleitet wird. [...]

Auch scheint es mir aus verschiedenen Gründen höchst wahrscheinlich, daß die hebräische Poesie mehr musikalische Poesie als eigener Gesang war. Das Instrument begleitete den Deklamator, der natürlich ganz vortrefflich sein mußte und alle Nuancen und Schattierungen auszudrücken vermochte — entweder mit kurzen Stößen oder ganzen musikalischen Sätzen, die den Geist der Dichtkunst dolmetschten. Jedes Komma, ganzes oder halbes Glied, jedes Zeichen der Bewunderung, die Ausrufung, die Frage, jeder Punkt wurde durch das begleitende Instrument ausgedrückt. Man kann noch heute an unsern guten, für die musikalische Deklamation gemachten Stücken die außerordentliche Wirkung der hebräischen Musik aufs deutlichste erkennen. Doch muß man auch hier aus Prädilektion für die Poesie nicht zu weit gehen und allen ausgeführten Gesang verwerfen wollen; denn der Gesang oder die Musik überhaupt kann Empfindungen und Idee nach ihrer Art ausführen, die der Dichtkunst unmöglich sind. Daß die Hebräer auch solchen ausführlichen Gesang gehabt haben müssen, ist mehr als aus einer Stelle der Heiligen Schrift klar. Ihre vortrefflichen Wechselchöre, wie z. B. der Psalm: «Danket dem Herrn, denn er ist freundlich» und der meisterhafte Psalm: «Machet die Tore weit und die Türen der Welt hoch, daß der König der Ehre einziehe», die einen abwechselnden und ausgeführten Gesang voraussetzen, ihr durch viele Takte durchgedehntes Halleluja, ihr Sela, welches gewiß nichts anders als eine musikalische Pause ist, worauf ein anderer Chor begann, ihre schon oben erwähnten Menatzeachs in allen schon damals bekannten Instrumenten, der hohe Flug ihrer Einbildungskraft und der volle Strom ihrer Empfindungen — erweisen dies zur Genüge.

Christian Friedrich Daniel Schubart

* Herder in seinem «Geist der hebräischen Poesie» hat weit mehr gesagt als Lowth und die Forderungen des Verfassers größtenteils erschöpft (der Hrsg., L. S.)

Laubacher Feuilleton 5.1993, S. 10

Aus: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, Hrsg. Jürgen Mainka, Verlag Philipp Reclam jun. Leipzig 1977, S, 39 – 40 und 42 – 43; hrsg. von Ludwig Schubart, Wien, bei J. V. Degen, Buchdrucker und Buchhändler, Wien, 1806

 
Fr, 09.10.2009 |  link | (1119) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Musikalisches






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