50 Gesänge, 22.795 Verse

Das finnische Nationalepos Kalevala

Ob es vor diesem Gedicht nicht schon vielen gegangen ist wie mir? Als ich es vor zehn Jahren kennenlernte, eines Morgens es anblätternd, da hielt es mich den ganzen Tag und die darauf folgende Nacht fast ohne Unterbrechung im Zauber, bis wieder Morgen war und die dreiundzwanzigtausend Verse ausgesungen verklangen!

Der finnische Doktor Elias Lönnrot hatte 1849 diese dreiundzwanzigtausend Verse zum ersten Male beisammen. Er glaubte als Sammler der Volkslieder seines Stammes, wie sie als epische und magische Runen unter den Bauern lebten und von den Laulajat, den Vorsängern, wachgehalten und zu den mannigfaltigsten Einheiten verbunden wurden, — er glaubte endlich auf die Vorgestalt des unzersplitterten Nationalepos gestoßen zu sein, und der Glaube half ihm. Aus Glauben wurde Anschauen. Und Lönnrot wurde etwas wie ein letzter Homer.

Vielleicht ist die Zeit des Kalevala bei uns jetzt gekommen. Viele von uns haben die physischen-allzuphysischen Holzereien in den bekannteren Heldenliedern anderer Völker satt; wir sind gegen kriegerisches Wesen und gegen die sogenannte Jugendkraft, die darin besonders deutlich faßbar werden soll, skeptisch geworden. Auch im Kalevala fehlt es an dumpfer Grausamkeit nicht, aber sie dient nur zum höheren Ruhme des Sänger-Wortes. Man könnte dieses Epos überschreiben: Kalevala oder die Allmacht des Wortes. Das Wort schafft die Unterscheidung der Dinge und damit in einem höheren Sinne die Dinge selbst, es ist der Träger aller Vorstellungen und Einbildungen und damit der Schöpfer der Geister, Dämonen und Götter. Sie sind nur letzte Exponenten des Wortes, ohne Gewalt außerhalb seines Bereiches, sie umwirbeln es leicht wie Blätterstreu. Der eigentliche Gott ist der erste und oberste Sänger: Väinämöinen. Seine Mutter, die Tochter der Luft, vom Winde geschwängert und zur Wassermutter geworden, hat ihn siebenhundert Jahre getragen, bevor sie ihn gebar. «Alt und wahrhaft» geht er über die Erde. Ihm ist gegeben, das Nordlandsvolk in Schlaf oder gar ganz fort zu singen, die Gestirne vom Himmel zu spielen. Alle lebenden Wesen kommen, ihm zuhorchen, und ihm selber quellen die Tränen der Entzückung bei seiner Musik, «voller als des Sumpfes Beeren, runder als des Feldhuhns Eier, größer als die Schwalbenköpfe». Die Tränen wandern an seinem Körper hinab wie an einem Gebirge und bergen sich nach weiterer Wanderung über die Erde als Perlen im Meere. Er kann, was der Schöpfer singen können würde, denn er ist der Schöpfer: der «säng' des Meeres Flut zu Honig, Meeres Sand zu schönen Erbsen, Meeres Schlamm zu gutem Malze, säng' zu Salz den Kies des Meeres, säng' zu Kornland breite Haine, Laubwald rasch zu Weizenfluren, Berge bald zu süßen Kuchen, Steine schnell zu Hühnereiern». Das «Wort» ist das Herrlichste. Durch das Wort wird im Kalevala die Weltentstehung und Weltgeschichte ein Weltbegreifen. Wenn das Gedicht anhebt, sind alle Dinge zwar schon da, aber es wird so getan, als wären sie noch nicht da, und die zweite Schöpfung der Erklärung, der Überlegung allen Zusammenhanges scheint älter, ernster und gewaltiger als die erste. Eine Ente baut auf dem Knie der Wassermutter ihr Nest, legt Eier hinein, die Eier fallen ins Meer, zerplatzen und entlassen Erde, Himmel und Gestirne, — es schadet nichts, daß die Ente früher da ist als der Kosmos, zu dem sie als ein kleiner Teil gehören wird.

Anton Schiefner hat das wundervolle Buch 1852 zuerst ins Deutsche übertragen, Martin Buber hat es vor einem Jahrzehnt verbessert und jetzt ein Drittel der Schiefnerschen Verse durch bessere, genauere, getreuere aus Eigenem ersetzt.

Oskar Loerke (1923)


Laubacher Feuilleton 16.1995, S. 4 (Fremde Epen)
Aus: Trajekt 1.1991, S. 142f.



Kalevala — Dritte Rune (kolmas runo)

«Soll ich selbst Verstand nicht haben,
Werd' ich ihn beim Schwerte suchen;
Nun du alter Väinämöinen,
Sänger mit dem breiten Maule,
Laß du uns die Schwerter messen,
Laß die Klingen uns beschauen!»

Sprach der alte Väinämöinen:
«Nimmer fällt's mir ein zu fürchten
Deine Waffen, deine Weisheit,
Deine Schneide, deinen Scharfsinn;
Doch dem sei nun, wie ihm wolle,
Mit dir, der du so erbärmlich,
Werd' das Schwert ich nimmer messen,
nie mit dir, dem armen Wichte.»

Doch der junge Joukahainen
Zieht gar schief den Mund und schüttelt
Samt dem Haupt die schwarzen Haare,
Selber spricht er diese Worte:
«Wer sich scheut das Schwert zu messen
Und die Klinge zu beschauen,
Den werd' ich zum Schweine singen,
Ihn zum Rüsselträger zaubern,
Stecke Helden solchen Schlages
Diesen hierhin, jenen dorthin,
Drück' ihn in den Düngerhaufen,
Stoß' ihn in die Eck' des Viehstalls.»

Unwirsch ward da Väinämöinen,
Unwirsch ward er und ergrimmte,
Fing nun selber an zu singen,
Hob nun selber an zu sprechen;
Keine Kinderlieder sang er,
Kinderkram und Weiberwitze,
Sondern Sang des bärt'gen Helden,
Den die Kinder nimmer können,
Auch die Knaben nicht zur Hälfte,
Freiersleute nicht ein Drittel,
Jetzt in diesen schlimmen Zeiten,
Bei dem sinkenden Geschlechte.

Sang der alte Väinämöinen,
Seen schwankten, Länder bebten,
Kupferberge selbst erdröhnten,
Starre Steine selbst erschraken,
Felsen flogen voneinander,
Klippen an dem Strand zerschellten.

Sang auf Joukahainens Krummholz
Zaubernd junge Baumessprossen,
Weidenbuschwerk auf das Kummet,
Weiden an des Riemens Ende,
Sang den schöngeschmückten Schlitten
In den See als schlechtes Strauchwerk,
Bannt' die perlenreiche Peitsche
An den Meeresstrand als Schilfrohr,
Sang das Roß mit weißer Stirne
An den Wasserfall als Steinblock.

Sang das Schwert mit goldnem Schafte
Dann als Blitzstrahl an den Himmel,
Bannt' des Bogens bunte Wölbung
Auf die Flut als Regenbogen,
Wandelte die flücht'gen Pfeile
Um zu Habichten, die kreisen,
Dann den Hund mit krummer Schnauze
Um zum Felsblock auf dem Boden.

[...]

Sang den Joukahainen selber
Bis zum Gurt in tiefe Sümpfe,
Bis zur Hüft' in Wasserweisen,
Bis zum Arm in Sandestiefen.

Jetzt wohl mußte Joukahainen,
Mußt' er merken und begreifen,
Daß er diesen Weg gegangen,
Diese Fahrt er unternommen,
Um zu streiten und zu singen
Mit dem alten Wäinämoinen.

Wollte seinen Fuß bewegen,
Nicht vermocht' er ihn zu heben,
Wollt' den andern darauf wenden,
Doch er war mit Stein beschuhet.

Schon gerät jetzt Joukahainen
In gar große Angst und Sorge
Und versinkt in starkem Jammer;
Redet Worte solcher Weise:
«Oh du weiser Väinämöinen,
Zaubersprecher aller Zeiten,
Wende deinen starken Bannspruch,
Nimm zurück die Zauberworte,
Laß mich aus dem Schreckensloche,
Aus der unbequemen Enge,
Gute Zahlung will ich geben,
Ich gelob ein kräftig Lösgeld!» [...]


Laubacher Feuilleton 16.1995, S. 4 (Fremde Epen)
Zitiert nach: Kalevala, das National-Epos der Finnen; Übertragung von Anton Schiefner; bearbeitet und durch Anmerkungen und eine Einführung ergänzt von Martin Buber, Meyer & Jessen Verlag, München 1922 (1852), S. 14-15; das Original ist nachzulesen bei Suomalaisen Kirjallisuuden Seura (Finnische Literatur-Gesellschaft, SKS).
Die ins Deutsche ‹übersetzte› Schreibweise Wäinämoinen ist hier wieder ins originale Väinämöinen rückübertragen worden; ebenso bei Loerke Kalewala in Kalevala.
Einige Abschnitte aus dem Kalevala in Ton-Bilder umgesetzt hat der finnische National-Komponist Jean Sibelius.
Und so hört sich Väinämöinen an, wenn John Soininen ihm die Stimme leiht (mp3). Finnische Lieder, unter anderem aus dem Kalevala; Aufnahmen aus den dreißiger Jahren (collected by Sidney Robertson Cowell in Berkeley, California).

 
Mi, 17.06.2009 |  link | (1943) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Episches






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