Artemis — Diana

Die Götter der Griechen

Aphrodite

Auf den ersten Blick erscheint es fast, als ob die Möglichkeit, das Wesen des Weibes durch Gestalten von ausschließlicher Eigenart wiederzugeben, mit diesen drei Göttinnen zu Ende sei. Aber noch bleibt die Frau, die mit dem Manne nichts zu schaffen hat, die Jungfrau, eine hohe weibliche Wesenheit, die ja im späteren Christentum als Nonne und somit Braut Christi über alle Frauen gestellt wurde. Es handelt sich also um die nicht geliebte oder nicht liebende Frau, der die naturhafte Erfüllung nicht zuteil wird und deren Unberührtheit einen Hauch von Spröde und Ferne trägt. Auch diese Wesensseite des Weibes ist elementar und gültig. Deshalb ist sie für den Griechen göttlich und wird ihm zur göttlichen Gestalt. Ihr Name ist Artemis, die Diana der Römer.

Wie fast alle Gottheiten der Hellenen ist auch Artemis eine vorgriechische Göttin, und es ist dem indogermanischen Griechentum schwer geworden, diese ursprünglich blutdürstige Göttin in eine menschlich befriedigende Gestalt zu veredeln. Wie Aphrodite, die ursprünglich syrische Astarte, der ein Prostitutionskult gewidmet war, in die strahlende Liebesgöttin verwandelt, wie die vorgriechische Erdhöhlengöttin Da in die Erd- und Mutterschoßgöttin Da-mater, De-meter vergeistigt wird, wie die Hera, wahrscheinlich eine als heilige Kuh verehrte, ursprünglich kretische-mykenische Gottheit zur hohen Ehegöttin gesteigert wird, so wird nun auch die Schlächterin Artemis verwandelt. Die vorgriechische Artemis heißt die Herrin der Tiere. Sie ist abgebildet mit Schlangen und wilden Tieren. Sie liebt das Tieropfer, zu ihr betet man für das Gedeihen der Herde, für eine gute Geburt der Tiere, und so ist sie sogar zur Geburtshelferin der Menschen geworden. Sie hat mit Blut zu tun. Noch in der späten Sage erfährt man ihren Zorn, wenn einer, wie König Agamemnon, ihre Hirschkuh verletzt. Sie fordert zur Sühne die Opferung eines Menschenkinds, der Iphigenie. Aber langsam wandelt sich das Bild. Im reifen Mythos wird sie zur Jägerin. In hochgeschürztem Kleid, mit Bogen und Köcher ausgestattet, von der heiligen Hirschkuh begleitet, streift sie durch die einsamen Bergschluchten und Wälder. Aber jeder Jäger ist zugleich Heger des Walds und Pfleger des Wilds. Der Jäger ist der Mensch, der die Tiere immer noch am besten kennt und liebt. Mit diesem doppelten Wesen der Jägerin und Pflegerin ist die Gestalt der Artemis erfüllt. Sie ist die einsame ungesellige, die Junggesellin, der Liebe abhold und immer die Feindin der Aphrodite. Den Aktäon, der ihre nackte Gestalt im Bade erspäht hatte, läßt sie von seinen eigenen Hunden zerreißen. Aber wo ein Tier grausam verfolgt wird, ist sie zur Stelle, und wo ein Jüngling sich von der Liebe nicht verführen läßt, wie jener Hippolytos, der vor seiner buhlerischen Stiefmutter Phädra flieht, beschützt ihn Artemis. Sie ist die Bringerin der Geburtswehen, die sich die griechischen Frauen als von der Artemis abgeschossene Pfeile vorstellten, aber auch die Helferin bei den Geburten, zu der die Mütter in ihrer schweren Stunde beten.

Bei Homer wird sie hagne, die Heilige, genannt, das heißt: die Reine und Keusche, die sich fern jeglicher Vermischung hält, aber gerade deshalb dem Unberührten, der reinen hilflosen Kreatur zu Hilfe kommt. Sie, die selbst keine Wehen erleidet, wird zur Wehmute. Der Vergleich, den ich nun ausspreche, klingt vielleicht banal, aber er hilft zum Verständnis, und wir müssen ja alles tun, um den uns oft so fremdem Mythos verständlich zu machen. Denken Sie an den Typus der Pflegeschwestern, jener entsagenden, dem öffentlichen Leben fernen, in der Stille wirkenden guten Geister, die den Müttern helfen, ohne selbst Mütter gewesen zu sein, und Kinder pflegen, die ihnen nicht gehören — so spüren sie für einen Augenblick sicherlich die Verwandtschaft mit dem Wesen Artemis. Auch Artemis ist keine Geliebte, keine Mutter, keine Gattin, aber sie ist eine Schwester. Damit geraten wir, nachdem wir soeben von der christlichen Erhöhung der Nonnen zur Braut Christi gesprochen haben, wiederum und merkwürdigerweise in den ganz unvermuteten christlichen Bezirk. Nehmen Sie noch dazu, daß Artemis tatsächlich und als einzige aller Göttinnen Schwester ist, nämlich Zwillingsschwester des größten und geistigsten Gottes Apollon. So verstehen Sie, wie wir mit dieser Göttin wiederum in der Rangstufe der Gottheiten eine weitere höhere Stufe erreicht haben, über Aphrodite, Demeter, Hera, die doch alle noch in der irdischen Liebe, im Sinnlich-Geschlechtlichen verhaftet sind.

Vielleicht können wir die Göttin Artemis mit einem zwingenden Worte fassen: sie ist die unberührte Natur. Unberührt im menschlichen Bezug, als die keusche Jungfrau — und im Kosmischen gleichfalls der Ausdruck der unberührten Natur, der einsamen Landschaft, der geheimnisvollen Stille in Wald und Flur. Beachten Sie, mit welcher Scheu diese Stille in der griechischen Dichtung einmal ausgedrückt wird: «...auf unberührter Wiese, wo nie ein Hirt die Herde weiden darf, wo keine Sichel klingt, wo nur im Lenz die Biene durch die lichten Auen schwärmt; die Keuschheit waltet hier...» (Euripides, Hippolytos, v. 74ff). Das ist der Bereich der Artemis. Wenn der Grieche jenseits seiner Stadt den Zauber der unberührten Landschaft fühlte, die stille Alm auf den höchsten Bergen, das wunderbare Schweigen im Wald — nichts rührt sich, das gedämpfte Licht steht stille zwischen den Zweigen, und nur ein Blatt fällt leise und bebend zu Boden —, in solchem Augenblick schreitet Artemis durch die Natur, wie in einem von der gleichen Heimlichkeit durchzogenen Bild Böcklins, das Schweigen des Waldes genannt, eine Weibsgestalt auf dem weißen Einhorn durch die Stämme reitet. Hier, fühlen wir, ist der Grieche, in seine plastische Phantasie gebannt, an der Grenze seines Wesens. Mit dem Gefühl, aus dem er die Artemis als Wesenheit schuf, streift er an das, was nur noch durch die Musik, etwa der des Waldwebens im Siegfried zu sagen oder durch die Landschaftsmalerei zu geben ist, die dem Abendland erst durch das Christentum ermöglicht wurde, das die Seele des Menschen entdeckt und so erst die Voraussetzung der Beseelung der Natur geschaffen hat — womit wir ein drittes Mal bei der Göttin Artemis und sicher nicht ohne Grund an eine christliche Ahnung rühren.

Friedrich Schuh


Laubacher Feuilleton 7.1993, S. 15; Fortsetzung folgt
 
Do, 16.04.2009 |  link | (1802) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Goettliches






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