Thank you Ferré

Einen fulminanteren Abgang konnte es nicht inszenieren, das französische Chanson-Heiligtum Léo Ferré: pünktlich zum 14. Juli (1993) — dem französischen Nationalfeiertag. TF 3 brachte (ich hatte lediglich, wie üblich, den Hotelfernseher auf seine Funktionstüchtigkeit hin überprüfen wollen) einen lange Nacht mit ihm — und mich in tiefe Trauer um ihn. Ich lieb(t)e seine dramatischen Musik-Inszenierungen (die man hier vermutlich als schwülstig bezeichnet), beispielsweise sein Muß es sein, es muß sein, dem diese unnachahmliche Beethovensche Coriolan-Ouverture mit einem nahezu sakral-bombastischen Klangkörper folgte. Grandios sein La Chanson du Mail-Aimé, dieses lange Gedicht von Guillaume Apollinaire, diese herausragende Aragon-Vertonung, sein nahezu sinistres Et ... Basta! Ich lieb(t)e sein melancholisches, ja zärtliches Je te donne; nicht wiederholbar sein La folie, seine Einsamkeit in La Solitude oder dieses Danach in Avec le Temps, unvergleichlich seine Hymne an Marseille in La violence et ennui.

Unnachahmlich? Fürwahr. Ferré ist und bleibt Ferré.

Es gibt einige, die ihn verstanden haben, wie die verschiedenen Interpreten des legendären Konzertes der Francofollies in La Rochelle 1987, das 1988 auf CD erschien. Aber es waren doch nur Sängerinnen und Sänger, die nach Ferré auftraten und Ferré wiedergaben: Sie mußten am Chanson-Großmeister scheitern, der bereits vor ihren Auftritten seine vier Züge gemacht hatte.

Allerdings übermannte mich vor einiger (langer) Zeit eine Dame — Ann Gaytan (auch sie, wie einst Jacques Brel, aus Belgien nach Paris gekommen). Ihr Dankeschön an Léo Ferré mit dem (typisch französischen) Titel Thank you Ferré, ein Jahr nach seinem Tod erschienen, ist ein Hörerlebnis, das tief in den Seelen-Furchen sitzt, die dieser Übervater des 70er, 80er und auch 90er Jahre-Chansons in mich gegraben hat.

Möglicherweise hätte sie sich zu Ferrés Lebzeiten diese Eigenständigkeit nicht herausgenommen (wenn Gaytan auch bereits mit Ferré zusammengearbeitet hatte)?! Denn sie singt die zwölf Ferré-Titel derart «befreit» (von der Last des Meisters?), daß einem der Solitude-Himmel ins Hirn zu fallen droht. Sie spannt die Ferréschen Solitaire ein und gibt ihnen einen völlig neuen Schliff, einen, durch dessen Flächen das schwarze Licht der Lebensqual über gravierende musikalische Verzerrungen reflektiert wird. Dann greift sie im 13. Stück kompositorisch seine Musik auf, um ihre poetische Hommàge hineinzubetten. Und schließlich dieser A-capella-Gesang La chanson triste, diese Hymne an den Gott der Liebe, von dem sie sich verabschiedet — damit stellt sie musikalische und poetische Parität her.

Zur französisch- und englischsprachigen Seite von Ann Gaytan mit einigen Hörproben, unter anderem mit dem Titel-Chanson Thank you Ferré, geht es: hier.

jst

Laubacher Feuilleton 19.1996, S. 12
 
Mi, 25.03.2009 |  link | (1628) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Musikalisches






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