Nur ein zeitgeschichtliches Ereignis?

30 Jahre Club Voltaire in Frankfurt am Main

Die ‹große Zeit› des Clubs, seine Entstehungsgeschichte liegt in den sechziger Jahren, in einer Zeit der Auseinandersetzung mit der konservativ-christdemokratischer Meinungsführerschaft der Adenauer-Epoche. Die sich entwickelnde Suche nach Offenheit und Toleranz, nach sozialer und humanistischer Emanzipation gaben damals dem Club Themen. Streitkultur wurde später zum Modewort, aber in den Jahren vor 1968 war das ein Novum. In der heutigen Theoriesprache ausgedrückt war die Gründung des Club Voltaire 1962 eine innovative und kreative Lösung: Mitten in der Stadt, in bester Lage, wird ein politisch-literarischer Verein aufgemacht, dem eine abendliche Gastronomie angegliedert ist. Alles was dort gemacht wurde, war revolutionär: Die Eigenständigkeit, die Öffentlichkeit, die Provokationslust. Man kann noch heute — nahezu unverändert — die spröde Modernität der Räume sehen. Einfach und robust sind Theke, Tische, Stühle, zweckmäßig, nicht schön sollten sie sein; preiswert, nicht teuer; offen, nicht elitär sollte es zugehen. Dies war die Idee eines Treffpunktes für Arbeiter und studentische Jugend, für Linke und kritische Intelligenz, für Unzufriedene und Neugierige. Die Nähe zum Jazzkeller war wichtig, ebenso zum Kabarett Die Maininger. Für die Zwecke des Club Voltaire, gedacht als linkes Oppositionszentrum gegen den Konservativismus von Politik und Kultur, gegen die Anpassungsbereitschaft von Sozialdemokratie und Gewerkschaften, kam es darauf an, einen Ort der Gegen-Kultur und Antipolitik zu schaffen. Interieur und Ambiente waren nicht wichtig, viele fanden die Inneneinrichtung abschreckend und schmuddelig, das Bier aus der Flasche reichlich proletarisch. Aber: man traf immer jemanden, mit dem man reden und streiten konnte.

Wer heute den Club Voltaire betritt, von der Frankfurter Rundschau zum «historisch gewordenen intellektuellen Ort» erklärt, merkt sofort, daß man sich immer noch hartnäckig weigert, dem jetzt modernen oder doch nur modernisierten Frankfurt zu folgen. Mauerbau und Ostermarsch, Godesberger Programm und Antinotstandskampagne; Ingmar Bergmans Film Das Schweigen rüttelten die Republik; Intendanten brauchten viel Courage, Brecht zu spielen. Wolfgang Abendroth war die intellektuelle Integrationsfigur der Linken, Enzensbergers Einzelheiten ein Geheimtip, Sweezys Theorie der kapitalistischen Entwicklung eine Pflichtlektüre. In diesem Umfeld entstand der Club Voltaire. Sein Publikum erweiterte den sozial und politisch vergleichsweise homogenen Kreis der Gründer. Es waren vor allem die Filmemacher des Fernsehens, Texter und Zeichner von Pardon, Journalisten, Musiker, Schauspieler, die den Club mit Vitalität und Einfallsreichtum versorgten. Der Club Voltaire hatte eine Scharnierfunktion zwischen junger und alter, neuer und traditioneller, aufgeschlossener und verbliebener, organisierter und ungebundener, zwischen proletarischer und intellektueller Linken. Aber seitdem die Darstellung eines scheinbar «gezähmten Kapitalismus» das dynamische Zentrum auf die sogenannten Probleme einer Risikogesellschaft verlagert hat, fehlt der Partei- und Gewerkschaftslinken und vielen marxistisch orientierten Intellektuellen der Zugang zu einer Perspektive, die Grundlage für eine Politik für Gegenwart und Zukunft.

Vor drei Dekaden waren die theoretischen Welten der Linksintellektuellen noch heil, die politischen Frontstellungen der oppositionellen Sozialisten noch eindeutig. Nichts war unübersichtlich, im Gegenteil: Ein rechtsdogmatischer Konservatismus in Politik und Kultur, erweitert um den «sozialen Unternehmer» sowie einer nur halbherzigen Opposition der etablierten Großverbände der Arbeiterbewegung, munitionierten die Linksopposition — sehr klein und sehr übersichtlich — wieder und wieder mit der Gewißheit, daß die leicht als Klassengesellschaft definierbaren Verhältnisse über sich hinausweisen und den Übergang zu einer höheren Form gesellschaftlichen Zusammenschlusses ankündigten. Spätkapitalismus — an seiner Transformation mitzustricken und antikapitalistische Strukturreformen im Sinne von André Gorz auf den Weg zu bringen, das waren klare Intentionen. Die Namenspatronen des Clubs hießen mit Bedacht nicht Marx oder Luxemburg. In dem französischen Freidenker und Aufklärer Voltaire wurde der erfolgreiche Vorkämpfer einer wahrhaft historischen Revolution gesehen. Die Auseinandersetzung mit dem europäischen Faschismus, insbesondere mit dem von den Alliierten besiegten und von den Deutschen nicht verarbeiteten Nationalsozialismus war ein thematischer Schwerpunkt; Alfred Kantorowicz sprach über den spanischen Bürgerkrieg; deutscher Literatur im Exil war eine ganze Veranstaltungsreihe gewidmet, Anna Seghers las. Eine herausragende Pionierleistung war im Frühjahr 1967 die repräsentative Ausstellung der Werke von John Heartfield, an deren Vorbereitung er selbst großen Anteil hatte. Dies war typisch für das Selbstverständnis des Club Voltaire. Dem Frankfurter Publikum wurde ein Stück revolutionärer, antibürgerlicher Kunst präsentiert; den DDR-Kultusbürokraten auf der Vernissage im Karmeliterkloster ein linker Schriftsteller besonderer Art zugemutet, ein Trommler zwar für die Anerkennung der DDR, aber ein Republikflüchtling: Gerhard Zwerenz. Nach allen Seiten hin eckte der Club an.

Ein anderes Reizthema war, heute kaum vorstellbar, die DDR selbst. Der Club hatte über Jahre hinweg dafür gesorgt, daß sich die DDR von ihrer besten Seite zeigen konnte: Ihre Literaten kamen — von Christa Wolf, Volker Braun, Erik Neutsch bis Hermann Kant; ihre Wissenschaftler hielten Seminare, das Berliner Ensemble gab Gastvorstellungen. Seine Herkunft aus der undogmatischen Linken schützten den Club, zum unkritischen Forum für die DDR zu werden. Die Realität des zweiten deutschen Staates als Folge des von Nazi-Deutschland begonnenen Weltkrieges wollte man schon anerkannt wissen, es handelte sich um eine Stück vorweggenommener Ostpolitik. Weithin wurde von den Clubbesuchern — trotz aller Kritik — die DDR für zukunftsträchtig gehalten. Die volle Schockwirkung des Stalinismus kam dann mit der Niederwerfung des Prager Frühlings. Die Schriftsteller und Bürgerrechtler und Karikaturisten, die Gäste des Clubs waren, wurden mit Berufsverboten belegt, teils eingekerkert. Das wurde dann zum unwiderruflichen Bruch mit dem undemokratischen Realsozialismus.

Ein anderer wesentlicher Programmbestandteil war die Auseinandersetzung mit linker Theorie, die Aneignung linker Literatur und die Aufarbeitung der Geschichte der Arbeiterbewegung. Ernst Fischer, Leo Kofler und Ernest Mandel kamen zu Vorträgen und Seminaren; wiederholt machten Künstler des Berliner Ensembles Songs und Gedichte von Brecht, Tucholsky, Villon u. a. populär; eine große Brecht-Ausstellung mit Arbeiten von Sandweg, Neher, Heckroth und anderen wurde eingerichtet. Walter Fabian, gewerkschaftlicher Intellektueller in der Weimarer Republik und später Vorsitzender der Humanistischen Union, sprach über historische Themen; Fritz Opel (IG-Metall) und Werner Vitt (IG-Chemie) referierten über aktuelle Probleme der gewerkschaftlichen Arbeiterbewegung. Hermann Flach, damals Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, erklärte die Freiburger Thesen der F.D.P.

Hinzu kamen noch viele bunte Programmsplitter: Erhards Formierte Gesellschaft wurde mit Entrüstung aber großer intellektueller Lust zerpflückt. Günter Grass, von eben jenem Bundeskanzler als «Pinscher» niedergemacht, agierte im Club für die ES-PE-DE. Die Amsterdamer Provos kamen als frühe Vorboten zivilen Ungehorsams an den Main. Weitere Glanzlichter waren die Filmseminare des Clubs, die Jazzkonzerte alter Frankfurter Bands, viel Kleinkunst. Franz Josef Degenhardt, Dieter Süverkrüp, Hannes Wader, Dieter Hüsch und andere hatten hier ihre frühen Auftritte.

Ein abrupter Schwenk in die Themenwelt der heutigen Debattierclubs macht den Unterschied zwischen den beiden Polen politisch-literarischer Opposition früher und politischer Kultur heute vollends deutlich. Statt politischer Ökonomie, Theorie und Geschichte des Sozialismus stehen heute andere Themen im Vordergrund des Interesses: Es geht um eine neue Urbanität, um moderne und postmoderne Architektur oder um intelligente Strukturen; um Stadtkultur und Unternehmenskultur, um multikulturelles Zusammenleben und internationale Kooperation, um Gleichgewicht, Stabilität und Kompromiß, um Vielfalt und Differenz.

Der Club Voltaire in seiner Rolle als Organisator von Antipolitik und Gegenkultur ist von der Toleranzwelle des heutigen Frankfurt überschwemmt worden. Es gibt keine laizistische Heilslehre mehr, keine fundamentalistische Doktrin, keinen archimedischen Punkt mehr, von dem aus sich die Welt erschließen ließe. Aber: Bedarf es nicht weiterhin (oder erneut) eines eingriffsfähigen linken Potentials hierzulande? Der nachstalinistische Kommunismus ist zusammengebrochen. Allerorts triumphiert jetzt zusammenhängender Weltkapitalismus, jedoch mit ständig steigenden Ausbeutungs- und Verelendungsquoten und enorm wachsender Umweltzerstörung (nicht nur wirksam in der Dritten Welt). Weite Teile der Ex-DDR sind unterwegs in das untere Drittel unserer Gesellschaft. Die Finanzmittel der Länder und Gemeinden werden, bei steigendem Bedarf, zur Befriedung enorm wachsender Sozialausgaben immer knapper. Für den beabsichtigten ökologisch-sozialen Umbau bleibt indessen fast nichts mehr übrig. Hat das keine, in den politischen Kärftefeldern und -konstellationen beruhende und darstellbare Gründe? Soziale Abstiegs- und Zukunftsängste wachsen und leiten Wasser auf die Mühlen rechter, nationalistischer und rassistischer Demagogen. Kann die deutsche und europäische Linke nicht mehr dagegen halten, hat sie nichts mehr zu bieten? Hat sie alle alternativen, sozialen und humanen Gesellschaftsentwürfe aufgegeben oder eingestellt, nur weil ein Gesellschaftssystem, das sich zwar Realsozialismus nannte, aber in Wirklichkeit ein totalitäres, inhumanes Herrschaftssystem war, sich aufgelöst hat? Also statt weiterer Ingebrauchnahme der Postulate der Aufklärung und zugreifender Gesellschaftskritik nur noch Resignation, Klagelieder oder Abtauchen in subjektive Interessenwahrnehmung? Mitmischen im gesellschaftlichen Catch-as-Catch-can? Marx, Marcuse, Reich, Adorno, Bloch, die gesamte konkrete Utopie passé, auch wenn die ganze Republik nach rechts zu kippen droht? Mag auch das Vertrauen in die große Solidarorganisationen aus nachvollziehbaren Gründen gemindert oder angeschlagen sein — aber muß deshalb die Linke sich mit all ihrer Erkenntnisfähigkeit, mit ihren gesellschaftlichen, auch aus der Geschichte ableitbaren und aufgetragenen Entwicklungsmöglichkeiten verabschieden? — Es ist also wieder ein gutes Umfeld für den alten Club entstanden. Es gibt ein zunehmendes Verlangen nach intellektuelle Schärfe, nach einer neuen Dialektik der Aufklärung. Die Suche nach dem Sinngehalt einer vielschichtig in Gang gekommenen sozialen und individuellen Emanzipation hat wieder begonnen. Alter Club — was nun?

Heiner Halberstadt, Rita Seum


Laubacher Feuilleton 4.1992, S. 4
 
Do, 05.03.2009 |  link | (1399) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gesellschaftliches






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