Nabel der Welt

Gedanken über ein Zentrum

Ein Sommertag am Genfersee. Der Redaktor von Basel hatte die Kunstkritikerin zum alten, damals nahezu unbekannten Maler nach Vevey geschickt. Ein Geheimtip sei er: Théodore Bally.

Jetzt saß ich ihm gegenüber. Wir redeten von Kunst (von was sonst). Von Geometrie und ihren Gesetzmäßigkeiten, die Bally lebenslang mit immer neuen stabilen Gleichgewichten ebenso bestätigt wie unterwandert hatte. Wir redeten von der lebens- und menschheitserhaltenden Notwendigkeit solch einsamen gestalterischen Tuns. Und dann setzte Théodore Bally plötzlich sein schon zum Trinken erhobenes Glas weißen Waadtländers dezidiert wieder auf den Tisch und sagte: «Wissen Sie, was wir hier reden, das scheint allen anderen unwichtig. Kunst? Ihre Probleme, die wir abhandeln? Diese werden, diese wollen doch gar nicht wahrgenommen werden. Es ist, als redeten wir zusammen zuunterst in einem Fluß, über uns braust es von der Geschäftigkeit der Menschen, vom Getöse ihrer vermeintlichen Fortschritte. Uns aber hört keiner.»

Ich widersprach, gab zwar zu, irgendwo tief unten zu sitzen, aber das sei doch, was man als heimlichen Angelpunkt bezeichnen könnte — ich suchte nach Worten —, ja, das sei vielleicht der Nabel der Welt.

Bally, der Spötter, der Skeptiker, lächelte: «Ich möchte, Sie hätten recht. Aber wenn Sie so alt sind wie ich, werden Sie Ihren Idealismus schon zurückgesteckt haben.»

Heute bin ich so alt. Ich habe nicht zurückgesteckt. Das Unterwegssein zum Nabel der Welt gab ich nicht auf.

Laut Duden bedeutet der Nabel der Welt «in gehobener Sprache das Wichtigste, der Mittelpunkt, um den sich alles dreht». Bildhafter — und mir lieber — ist die Verwandtschaft mit dem indogermanischen Wort ‹Nabe›, das ursprünglich die rundliche Vertiefung in der Mitte des Bauches bezeichnete. Als die Indogermanen den Wagenbau kennenlernten, wurde Nabe auch für den Mittelteil des Rades gebraucht. Nabel und Nabe, Nabelschnur und Speiche: ein Punkt der Ruhe mitten im Kreisen. Von hier aus schien — und scheint — mir eine Sinnfindung wenn auch nicht gewährleistet, so doch möglich.

Im Rotieren und Rütteln des täglichen Geschehens, im Kreisen meines Berufs des kritischen Kunst-Interpretierens, finde ich zuweilen Augenblicke des Ankommens in der Nabe des Rades, vielleicht in der Nähe des Nabels der Welt: rare Glücksmomente.

Sie können eintreten bei einem Gespräch, einer Begegnung, vor einem Bild, einer Skulptur, vor einem Bauwerk. Und immer wieder beim Lesen. Zum Beispiel seit dem Monat März 1992, der Nummer 1 des Laubacher Feuilleton begegne ich einem Häuflein von Schreiberinnen und Schreibern, die unterwegs sind zum Nabel der Welt, der für sie Laubach heißt. Zu gutem Recht bezeichnen sie ihre hier zum Buch gefaßten Texte als ‹Berichte vom Nabel der Welt›. Dort betrachtet man die Dinge nicht unter dem sonst beliebten journalistischen Schnappschuß-Blick. Man will ihrer auf andere Weise ‹gewahr› werden, um herauszufinden, was sich daran vielleicht als ‹wahr› erweist. Das können für eine schreibende Laubacherin plötzlich die Tränen des vierjährigen Kindes sein, das Verdis ‹Traviata› hört und sieht, als wahr erlebt — und nochmals weint, jetzt aus Unverständnis, wenn die so glaubhaft verstorbene Violetta lächelnd-lebendig vor den Vorhang tritt.

Im Nabel der Welt hat man Zeit fürs Spiel und fürs spielerische Nachdenken. Zum Beispiel über Fußball. Oder über Pippi Langstrumpf. Oder über Kunst, die man in Laubach in ihrem Wahrsein bestehen läßt, denn man will sie «beim Wort nehmen ..., aber ihr nichts andichten, was nicht in ihrer Macht steht» (Laubachs Wort ins Ohr der Interpreten). Und immer wieder denkt man nach über ‹Sprache›, über ihre Vergewaltigung heutzutage. Zuweilen mit saftigen Beispielen, und der Autor weiß: «Klar, daß man sich damit keine Freunde schafft.» Wer im Nabel der Welt sitzen will, darf nicht nach Einschaltquoten schielen.

In Laubach gibt es hie und da jene Prise Begeisterung, die dann auch Kritisches glaubhaft macht. Ja, Begeisterung in einer Zeit, die diese in den Feuilletons als gar nicht fein gilt. Da auf der Schreibmaschine das Ausrufezeichen nur noch als ‹Sonderzeichen› am Tastenrand mit komplizierten Manipulationen einzusetzen ist.

Ganz nahe daran ist das Lachen, manchmal ironisch, nie zynisch, oder dann das schönste Lachen, das nur den Allerfeinsten sowie den echten Spinnerinnen und Spinnern eigen ist: das Lachen über sich selbst.

Im Nabel der Welt namens Laubach ist die Freude lichter, aber der Schrecken dunkler. Denn was wir gelassen als ‹Historie› hinnehmen, wird dort auf seine menschliche Dimension hin untersucht: Was dachten die beiden Juden, die in den Schreckenstagen der Französischen Revolution neben Danton auf dem Karren zur Guillotine gefahren wurden? Was sah Tilman Riemenschneider unter der Folter, als seine Hände, die erst noch die wundersamen Madonnen geschnitzt hatten, zertrümmert wurden?

Gibt es im Nabel der Welt Raum für eine Tafelrunde? Ich möchte empfehlen, dazu den alten Maler vom Genfersee einzuladen aus dem Jenseits. Und einige aus dem Diesseits.

Annemarie Monteil

Vorwort zum Buch Überall ist Laubach. Berichte vom Nabel der Welt.. Zusammengestellt von Detlef Bluemler und illustriert von Nicolai Sarafov.

Mit Beiträgen von:

— Peter Adamski
— Rudij Bergmann
— Josef Einwanger
— Konrad Franke
— Hellmut G. Haasis
— Ulrich Jackus
— Hans Platschek
— Lothar Romain
— S. D. Sauerbier
— Karlheinz Schmid
— Michael H. Schwibbe
— Lydia Tews
— Rainer Willert

 
Di, 03.03.2009 |  link | (2880) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Inwendiges






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Letzte Aktualisierung: 05.12.2013, 18:31



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