Luthers Leistung

Landauf, landab sind Werte wieder gefragt. Wo nichts mehr wird, steigt ihr Wert ins Unermeßliche. Der britische Historiker Harold James schlug den Deutschen neue Mythen vor: «Alles, was die Aufmerksamkeit von den engen Kalkulationen ablenkt, wird helfen, Stabilität zu erzeugen. Die Religion könnte das leisten, aber ebenso die Nation. Die Nation sollte uns sehen lassen, daß es im Leben um mehr geht als um Ökonomie und daß wirtschaftlicher Erfolg nicht der einzige Schlüssel zum Glück oder auch nur zur Stabilität ist.»

Da hatte er freilich die deutschen Diskussionen der letzten Monate und Jahre schlecht verfolgt, denn von Nation und Patriotismus reden sie seit 1990 schon sehr lange und anhaltend, zuletzt auch der, der nach Kanzlers Wunsch nächstjährig für Fest- und Fensterreden zuständig sein will, die womöglich — um seine politischen Äußerungen einmal ganz außen vor zu lassen, so fundamentale Einsichten verbreiten wie «das Leben eines Menschen wird nicht ausschließlich geprägt von den politischen Umständen und schon gar nicht vom Materiellen». Was die Gräfin der Zeit Klage führen ließ, es gebe keine verbindliche Ethik und keine moralischen Prinzipien des Handelns mehr und sie «eine weit zwingendere Ethik als in früheren Zeiten» fordern ließ, was sie im gleichen Blatt schon einmal mit der Einführung eines Arbeitsdienstes buchstabiert hatte.

Was das alles mit Luther zu tun hat? Da die Gräfin unter Ethik vornehmlich die des Protestantismus zu verstehen meint und der Kandidat ungebrochen der Zwei-Reiche-Lehre Luthers anhängt — sehr viel. Es darf gefragt werden, worin denn Luthers Leistung für die deutsche Geschichte bestand und welche Folgen seine Grundannahmen zeitigte.

Was war die politische Grundüberzeugung Luthers, die — später in der Zwei-Reiche-Lehre systematisiert — zum Prinzip der Moral und Ethik des gesamten Luthertums bis in die Gegenwart wurde? Es war die Überzeugung, daß ohne obrigkeitliche Ordnung die Freiheit — auch, aber nicht nur die des Evangeliums — nicht möglich sei. Als Setzung Gottes als Weltregierung gewissermaßen sakralisiert und unangreifbar gemacht, ist obrigkeitliche Ordnung immer die je gegebene, egal welcher Qualität und Beschaffenheit, mit zwei Ausnahmen: Neue Ordnungen aus sozialen Bewegungen heraus — wenn man so will: revolutionär gestaltete — und die, welche sich sozialistisch-kommunistisch nannte, fielen nicht darunter. Aber das sind ohnehin vergessene Geschichten.

Luthers Glück bestand darin, daß er seine Vorstellungen, kaum waren sie entwickelt, geschweige denn ausgereift, schon am historischen Exempel exekutieren durfte. Die ersten, die die protestantische Ethik mit voller Wucht traf, waren die aufrührerischen Bauern des 16. Jahrhunderts, die die Frechheit besaßen, sich auf Luthers Lehre zu berufen.

Das in sehr naiver Form und aller Bescheidenheit; denn schaut man sich das Programm der Bauern, die Zwölf Artikel vom März 1525 an, so bleiben im Kern Forderungen nach Wiederherstellung der Alten Rechte im Sinne einer gemessenen Festsetzung von Abgaben und Diensten, der Wiederherstellung des gemeindlich genutzten Landes, der Abschaffung der Leibeigenschaft (keineswegs der Hörigkeit), kurzum des Zustandes, den die Feudalherren einseitig zu Lasten der Bauern in den vergangenen Jahrzehnten verändert hatten. Das Ganze war eingebettet in Versatzstücke einer von den Bauern für ihre Zwecke funktionalisierten Kirchenkritik, etwa der Wunsch nach freier Wahl des Gemeindepfarrers. Und zu Beginn der Auseinandersetzungen mit den Obrigkeiten ging es den Bauern auch keinesfalls darum, ihre Forderungen mit Gewalt durchzusetzen. Im Gegenteil: Sie ließen sich auf hinhaltende Verhandlungen mit den Fürsten ein, die diese weidlich nutzten, Truppen zusammenzuziehen, um die Niederschlagung der Gar-nicht-Aufrührer vorzubereiten.

Luther hat sehr schnell auf die Zwölf Artikel reagiert. Gerade zwei Monate später formuliert er ein Weltbild, das so ganz aus dem Holz der Obrigkeit geschnitzt war. Den Bauern schlug er ernsthaft vor, wollten sie einen Pfarrer haben, ihn doch demütiglich von der Obrigkeit zu erbitten; die Rückkehr zu einer geregelten Abgabe des Zehnten war für ihn der Beginn der Expropriation der Grundherren, und die Abschaffung der Leibeigenschaft kommentierte er zynisch: «Denn ein Leibeigener kann wohl Christ sein und christliche Freiheit haben, gleichwie ein Gefangener oder Kranker Christ ist und doch nicht frei ist.» Die Belehrung der Bauern schloß mit der Aufforderung, sich doch an Recht und Gesetz zu halten, womit selbstredend das Fürstenrecht gemeint war.

Nicht verwunderlich, daß Luther mit Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen, bei denen die Bauern schon aufgrund der schlechteren Bewaffnung, mangelnder Organisation und Führung von vornherein die schlechteren Karten hatten, ausrastete und seine Vorstellungen von Ethik und Moral den Fürsten unmißverständlich in der Form andiente, «zu würgen, stechen, heimlich und öffentlich, weil nichts Giftigeres, Schädlicheres, Teuflischeres sein kann als ein aufrührerischer Mensch» (Martin Luther).
So war die erste große Feuerprobe für Moral und Ethik bestanden und das Muster für die Bewältigung künftiger Krisen gefunden. Sie sollten sich in vielen Phasen der deutschen Geschichte noch bewähren, die nach Auffassung des Franzosen Pierre Gaxotte ohnehin die eines unglücklichen Volkes sei, weder Gleichgewicht noch Beständigkeit kenne, voller Kontraste und Extreme. In allen diesen Phasen hinterließ protestantische Ethik ihre Spuren.

Nehmen wir nur die wohlbekannte Tatsache, daß in Deutschland die Aufklärung eigentlich nie stattgefunden hat, jedenfalls keine politische Wirkkraft entfalten konnte. Statt dessen wurden die preußischen Tugenden entdeckt, die zeitgemäße Ausformung der protestantischen Ethik. Zwar ist Preußen tot, doch von seinen angeblichen Tugenden, von Pflichterfüllung, Pünktlichkeit, Ehrlichkeit, gar preußischer Liberalität zu reden, hat nie aufgehört und erfährt gegenwärtig eine Renaissance. So viele Fremde habe das Land aufgenommen, Fremde, die anderswo ausgewiesen wurden. Wohl wahr, man nahm sie auf, die Intellektuellen und qualifizierten Facharbeiter, wie die Bundesrepublik ausländische Arbeitskräfte aufnahm, als und solange sie für die Wirtschaft von Nutzen waren. Aber war deshalb Preußen liberal, nur weil es eine effiziente Bevölkerungspolitik betrieb? Anderes wird und wurde ausgeblendet, was nämlich in erster Linie für preußische Politik stand, der Militarismus, der vorbereiten half Wege und Werte, die ohne große Umwege und Korrekturen in zwei Weltkriege führten.
Von letzterem war nichts zu hören, als Kanzler und Bundeswehr Spalier standen, bei einem Staatsakt, der vielleicht nicht zufällig am Beginn eines wiedervereinigten Landes stand: Der Heimholung des Alten Fritz nach Potsdam. Einem zweiten Preußen widerfuhr erst neulich eine Wiedergeburt.

Am 2. September 1993 wurde das Reiterstandbild Kaiser Wilhelms I. am Deutschen Eck in Koblenz wieder auf den Sockel gestellt, von dem es amerikanische Soldaten 1945 heruntergeschossen hatten. Die Zuschauer jubelten, Schiffsirenen heulten. Zufällig sei es gewesen, daß es gerade der 2. September war. Merkwürdiger Zufall, wurde dieser Tag doch bis 1918 in Deutschland als Sedanstag gefeiert, an dem des 1870 in Sedan errungenen Sieges über Frankreich gedacht wurde; und nicht nur gedacht: Schulfrei gab es, landauf, landab wurden nationalistische Feierlichkeiten abgehalten. Sebastian Haffner verglich seine damalige Bedeutung einmal mit Tagen, an denen Deutschland Fußballweltmeister geworden ist.

Was sind das für Werte, für ethische Normen, die auf leisen Sohlen, zunehmend aber mit pomphaftem Getöse wieder zurückkehren?

In der deutschen Geschichte waren es nicht diejenigen, die auf ein friedliches, ziviles Zusammenleben abzielten. Karl Marx formulierte einmal, geschichtliche Tragödien wiederholten sich als Farce. Das ginge ja gerade noch an.

Martin Luther:
«Weil denn nun die Bauern auf sich laden beide, Gott, und Menschen, und so mannigfaltig schon an Leib und Seele des Todes schuldig sind und kein Recht (auf ihrer Seite haben), sondern immerfort toben, muß ich hier die weltliche Obrigkeit unterrichten, wie sie hierin mit gutem Gewissen (ver)fahren soll. Erstlich, der Obrigkeit, die da kann und will, ohne vorhergehendes Erbieten zum Recht und Billigkeit, solche Bauern schlagen und strafen, will ich nicht wehren, obgleich sie das Evangelium nicht leidet. Denn sie hat das gute Recht, nachdem die Bauern nun nicht mehr um das Evangelium fechten, sondern sind öffentlich geworden treulose, meineidige, ungehorsame, aufrührerische Mörder, Räuber, Gotteslästerer, welche auch heidnische Obrigkeit zu strafen Recht und Macht hat, ja dazu schuldig ist, solche Buben zu strafen. Denn darum trägt sie das Schwert und ist Gottes Dienerin über den, der übel tut, Röm. 13,4.»

Peter Adamski

Laubacher Feuilleton 8.1993, S. 4; wiederabgedruckt in Überall ist Laubach. Berichte vom Nabel der Welt, München 1995, S. 111–115
 
Fr, 13.02.2009 |  link | (5245) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Essai






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