Das Zeitunglesen

Vielfältig sind Zeitungen nutzbar, auch im Kaffeehaus: Du kannst Dich hinter ihnen verbergen, etwa um Dein Warten zu kaschieren; vertiefen kannst Du Dich in sie, um einem Tischpartner zu zeigen, wie gleichgültig er Dir ist; Machtvollkommenheit kannst Du demonstrieren, indem Du sie hortest. Als fortschrittsfreudiger Mensch hast Du solche Hinterlisten nicht nötig. Eine Zeitung wirst Du, so Du Dir eine nimmst, wirklich nur lesen wollen. Und Du wirst sie Dir wohl nehmen. Warum? Weil Du Dich von Dir ablenken willst; weil Du Dir bestätigen willst, wie klug Du warst, als Du Dich vor den Dingen, die sich in offener Gesellschaft abspielen, ins Kaffeehaus zurückgezogen hast; weil Du Dich auf Aktionen da draußen vorbereitest; weil Du ein analytisches Gemüt bist und nur handlungsfähig zu sein glaubst, wenn Du die Menschen begreifst. Du siehst, was Du auch willst im Kaffeehaus, das Zeitungslesen wird bald in jedem Fall von Nutzen sein. Unendlich dankbar wirst Du also sein, daß es die Stätten noch gibt, wo mehr als ein Dutzend Blätter aufliegen, und nur bedauern, daß vielerorts so viel schon abbestellt ist.

Natürlich weißt Du um die Gefahren des Zeitunglesens, kennst die Vorwürfe, die Kritiker seit Jahrhunderten vorbringen, ihre Stichworte: Suchtmittel, Handlungsersatz, Sensationsgier, Halbbildung, Erziehung zur Oberflächlichkeit. Wer aber sagt Dir denn, daß Du, was jene kritisieren, hier nicht haben und nicht ausüben sollst? Du empfiehlst schließlich keiner Allgemeinheit etwas, und vielleicht hast Du ja das andere: Nüchternheit, Handlung, Sachlichkeit, Vollbildung, Fähigkeit zur Tiefe, im Übermaß zu Hause. Und im übrigen: Wenn Du schon weißt, warum Du liest, dann wirst Du wohl wissen, wie Du Deinen Zwecken entsprechend zu lesen hast: ob konzentriert, oberflächlich, fahrig oder systematisch; und auch was Du zu lesen hast: Überschriften, Artikel, einzig Vermischtes und auch Sport. Und wenn immer noch Zweifel bestehen, so sage Dir, Du übst die Propaganda der Tat für den Fall, daß Du einmal Zeiten erlebst, wo Du als Zeitungleser Avantgardist bist.

Peter Cardorff


Cardorff/Ronstein, Illustriertes Handbüchlein des fortschrittsfreudigen Kaffeehausbenutzers oder Mehr Ernst bei der Halbheit. Mit freundlicher Genehmigung der Edition Nautilus, Nautilus/Nemo Press, Hamburg 1983, S, 44 – 46

Laubacher Feuilleton 2.1992, S. 3

 
Di, 28.10.2008 |  link | (1098) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Gastrosophisches






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