Marxismus als Rest-Größe

«Als ich das ‹Kapital› von Marx las, verstand ich meine Stücke. Man wird verstehen, daß ich eine ausgiebige Verbreitung dieses Buches wünsche» (Bertolt Brecht).

Und — was macht der Kerl jetzt, wo Marx doch endgültig widerlegt ist? Versteht er sich selbst nicht mehr? Oder war der Mensch etwa schon immer blöde? So muß es wohl gewesen sein. Denn heutzutage weiß doch schon jeder namenlose Spiegel-Spezial-Schreiber nicht nur, daß Marx sich pausenlos geirrt hat, sondern er darf z. B. aus der Tatsache, daß Marx den Tod seiner Mutter nicht gerade beweint hat, messerscharf schließen, daß sich Stalin bei seinen Massenmorden direkt auf Marx berufen durfte: Verachtung des Individuums, das Kollektiv ist alles, der einzelne Mensch ist nichts, und die Partei, die Partei hat immer recht usw.

In der Deutschen Ideologie kommt Marx über die Beschreibung und Kritik der arbeitsteiligen Gesellschaft zu der sattsam bekannten Vision einer kommunistischen Gesellschaft, «wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden». Diese ‹hübsche› Stelle muß unseren Spiegel-Kritikern entgangen sein. Nein, nein, nicht wie gemeinhin üblich als Beleg für die unseriösen Träumereien eines vielschreibenden Phantasten. Vielmehr ließe sich mit der obigen Methode doch sehr ‹schön› eine stringente Entwicklung von Marx hin zur real existierenden DDR und UdSSR zeigen: Unser Jäger bewegt sich mit Honecker in der streng abgeschirmten Schorfheide, der Fischer schaut mal eben bei dem VEB Fischfang Rostock vorbei, ob der Plan auch eingehalten wird, unser Hirte faulenzt auf seiner Kolchose der allgemeinen Hungersnot entgegen, und unser kritischer Kritiker übt nach dem Essen vor dem Parteikollektiv Selbstkritik.

Wie oft muß noch betont werden, daß Marx eine Kritik des Kapitalismus geschrieben hat — und eben nicht nur im Kapital, sondern in seinem Gesamtwerk, selbst dort noch, wo er böse gegen Zeitgenossen polemisiert oder sich mit philosophischen Strömungen auseinandersetzt. Handlungsanweisungen zum Aufbau der untergegangenen Sowjetunion oder der abgewickelten DDR hat er jedenfalls nicht geschrieben. Aber wen interessiert das schon? Marx ist der am meisten zitierte und am wenigsten gelesene, geschweige denn verstandene Autor dieses Jahrhunderts. Aber wir leben halt in Zeiten, da (‹wo›) ein Gespräch über Luxus im Regelfall die Assoziation ‹Radio› hervorruft, in den besseren Kreisen allerdings den Gedanken an günstige Kapitalanlagen weckt — womit wir wieder beim Thema wären.

Der kubanische, im Westen lebende Romancier Jesús Diaz stellte kürzlich fest: «In Osteuropa ist der Sozialismus gescheitert, in Lateinamerika ist der Kapitalismus gescheitert.» Nur dort? Es ist nicht Zynismus gegenüber dem Elend der Dritten Welt: Allein in München leben gegenwärtig 122.000 Menschen unter der Armutsgrenze. «Die Armut kommt von der pauvreté» — so verspottete schon Marx seine scharfsinnigen Kritiker, die Ausbeutung nur dort erkennen wollten, wo Menschen am Verhungern waren. Man sollte ihn eben lesen ...

Freilich kann er auch so erledigt werden: «Der letzte und vorletzte echte Marxist sitzen zusammen, sagen alle zehn Minuten ‹Scheiße, Alter, verdammt ey, total, du› und klopfen einander mit ausholender Gebärde an die Oberarme, und einer von ihnen — ist es der vorletzte oder der letzte — fragt sich, ob das die Wut im Bauch ist oder doch vom Fondue» (Thommie Bayer, SZ-Magazin). Meine Bauchschmerzen stammen nicht vom Fondue.

Notabene: «Meine Kenntnis vom Marxismus ist unvollkommen, so seiens lieber vorsichtig. Eine halbwegs komplette Kenntnis des Marxismus kostet heut, wie mir ein Kollege versichert hat, zwanzigtausend bis fünfundzwanzigtausend Goldmark und das ist dann ohne die Schikanen. Drunter kriegen sie nichts Richtiges, höchstens so einen minderwertigen Marxismus ohne Hegel oder einen, wo der Ricardo fehlt usw. Mein Kollege rechnet übrigens nur die Kosten für die Bücher, die Hochschulgebühren und die Arbeitsstunden und nicht was Ihnen entgeht durch Schwierigkeiten in Ihrer Karriere oder gelegentliche Inhaftierung, und er läßt weg, daß die Leistungen in bürgerlichen Berufen bedenklich sinken nach einer gründlichen Marxlektüre; in bestimmten Fächern wie Geschichte oder Philosophie werdens nie wieder wirklich gut sein, wenns den Marx durchgegangen sind.» (Brecht, Flüchtlingsgespräche)

Manfred Jander

Laubacher Feuilleton 1.1992, S. 4
 
So, 12.10.2008 |  link | (2959) | 0 K | Ihr Kommentar | abgelegt: Politisches






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